Die neue Situation

Die neue Situation – eher ein fließender Wandel, aber für Leipzig nicht ungefährlich

Industrialisierung brachte Chancen und Risiken für Leipzig

Erste Übergänge von der Waren- zur Mustermesse waren bereits im 18. Jahrhundert zu bemerken. Leipzig wurde zum „Hauptumschlagsplatz für englische Waren auf dem Kontinent“. Die Kaufleute aus England – der „Wiege der industriellen Revolution“ – mit ihren Garnen und Tuchen waren die Ersten, die ihre Waren „in Musterbüchern feilboten“ und in Leipzig wohl bereits 1840 „zahlreiche Musterlager“ unterhielten (Leipziger Messe GmbH ca. 2002, S. 11; vgl. auch Rodekamp 1997, S. 2161). Auch die Spielwarenindustrie dachte früh, mindestens schon ab 1850, in diese Richtung.2

Wichtige, alles in allem aber sehr ambivalente Impulse für die Modernisierung der Leipziger Messe lieferten die Entstehung eines einheitlichen deutschen Binnenmarktes und die enorme Beschleunigung des Verkehrs. Die Zeitepoche zwischen 1834 und 1870 stand „im Zeichen der räumlichen Vernetzung (Zollverein, Eisenbahnen, Telegraphen), die mit einer Verstetigung, Entfristung und Generalisierung des Marktgeschehens einherging, im letzten Jahrzehnt ergänzt durch den Vormarsch der Gewerbefreiheit, die 1861 auch in Sachsen gesetzlich verankert wurde“ (Zwahr/Topfstedt/Bentele 1999, Tb. 1, S. 339).

Gefahren und Chancen lagen eng beieinander. Eisenbahnen ermöglichten beispielsweise „unmittelbare Handelsverbindungen zwischen Erzeugern und Großhändlern unter Umgehung der Messen“ (Blaschke 1991, S. 264) und einen schnellen Postversand. Auch erleichterten sie das „Ausschwärmen“ von Handelsvertretern in die Fläche. Allerdings: „Für bestimmte Branchen und Wirtschaftszweige verbietet sich die Nutzung der neuen Absatzwege (vor allem Handelsreisende und Postversand), weil ihre Erzeugnisse entweder zu sperrig, zu vielfältig oder zu zerbrechlich sind, um im Musterkoffer eines Handelsreisenden Platz zu finden“ (Möller 1989, S. 111).

Berlin griff Leipzigs Domäne an

Abb.: Desinfektionskolonne während der Cholera-Epidemie in Hamburg 1892. Fotograf unbekannt. http://www.stolten.org Quelle: Wikimedia Commons, Public Domain.

In einer langen historischen Abfolge mit der Tradition einmal auszusetzen, kann zu ihrem Ende führen. Dies merkten die Leipziger, als sie – wenn auch aus gutem Grund – 1892 die Herbstmesse absagten. Aus reiner Vorsicht: In Hamburg – auch der ‚Leipziger Hafen‘ genannt – und in Russland – einem wichtigen Handelsmarkt – herrschte eine Choleraepidemie.3 Zu jener Zeit war den fortschrittlichen Messeakteuren in Leipzig schon klar, dass der Musterlagerverkehr als „der unter allen Bestandteilen der Messe entwicklungsfähigste“ zu betrachten sei, wie in einer Sitzung der Leipziger Handelskammer am 17. Oktober 1892 zu hören war (Blaschke 1991, S. 268).

Berlin, die aufstrebende Reichshauptstadt, sah darin eine Chance. Vor allem nach der deutschen Reichsgründung 1871 unter preußischer Vorherrschaft hatten sich bereits viele Gewichte aus den Teilstaaten in Richtung der Spree-Metropole verschoben. Nun versuchten Wirtschaftskreise aus Berlin – aufbauend auf ihren dortigen Musterlagern -, Branchen aus Leipzig in die Reichshauptstadt zu ziehen. Sie gründeten dazu die „1893er Vereinigung der keramischen, Bronze-, Kurz-, Spielwaaren (sic!) und verwandter Branchen“ (Geyer 1997, S. 115).4

Berlin gab Konkurrenzversuch auf

Die für den Frühherbst 1893 geplante Messe legte wohl einen akzeptablen Start hin, jedenfalls schrieb das Berliner Tageblatt, die Erwartungen „seien bei weitem übertroffen worden“ (Blaschke 1991, S. 269). Möller (1989, S. 115) hingegen, der übrigens das Jahr 1892 angibt, schreibt, der Berliner Konkurrenzmesse sei „nur mäßiger Erfolg bescheinigt“ worden. „Für das Scheitern des Berliner Messeprojektes“ führt er zwei Hauptgründe an: a) Ablehnung von Agenten und Handelsvertretern als Kontaktpersonen (nur die waren in Berlin ansässig, kaum Fabrikanten), b) Randlage Berlins in Bezug auf die Standorträume typischer Messeindustrien.

In der offiziellen Messegeschichte Berlins werden die Ereignisse von 1892/93 interessanterweise nicht erwähnt.5 „Im Gegensatz zu den Messeplätzen Leipzig und Frankfurt/M. spezialisierte sich Berlin rasch auf Ausstellungen und insbesondere auf Fachausstellungen. Die Themen wechselten zunächst ebenso wie die Standorte innerhalb des Stadtbereiches.“ Die Geschichte beginnt 1822 mit der ersten Gewerbeausstellung, die erste Fachausstellung war 1874 die „Messe der Bau- und Möbelindustrie“. „1897 organisierte der ‚Mitteleuropäische Motorwagenverein‘ die erste Automobilausstellung an der schon damals bedeutenden Straße Unter den Linden, denn das heutige Messegelände gab es noch nicht. Der Grundstein dazu wurde erst 1913 (…) gelegt (…).“ (Messe Berlin GmbH 2014)

 

Autor(en): T.L.

Anmerkungen
Berlin, Eröffnung der Funkausstellung

Abb.: Messe Berlin 4.12.1924, Eröffnung Funkausstellung. Quelle: Bundesarchiv, Bild 102-00877, Georg Pahl, CC-BY-SA 3.0 / Wikimedia Commons http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en

1 Um so mehr trafen 1806 bis 1813 die Auswirkungen von Napoleons Kontinentalsperre gegen England Leipzig, obgleich sie auch umgangen wurde. Vgl. Rodekamp 1997, S. 229f. Auch schon Blaschke 1991, S. 265. Möller 1989, S. 111.

2 Vgl. Rodekamp 1997, S. 304. Und: Zwahr/Topfstedt/Bentele (Hrsg.) 1999, Teilband 1, S. 425. Möller 1989, S. 111.

3 Vgl. dazu http://www.ndr.de/geschichte/schauplaetze/ choleraepidemie100.html (Beitrag heute nicht mehr existent) oder http://de.wikipedia.org/wiki/Choleraepidemie_von_1892

4 Auch Leipziger Messe GmbH (Hrsg.) ca. 2002, S. 14.

5 Das gilt auch für die historische Seite der zuständigen Senatsverwaltung http://www.stadtentwicklung.berlin.de/planen/ staedtebau-projekte/messe/de/geschichte/hist_entwicklung/ index.shtml (Abruf am 5.2.2014).