Lindblom 1980 (II)
Überredung als soziale Steuerung in allen Gesellschaften
„(M)arktorientierte(r) Gesellschaften“ funktionieren – so Lindblom (1980) – nicht nur über „Tausch und Märkte(n)“, sondern – wie autoritäre oder totalitäre Gesellschaften auch – über „Überredung als ein System sozialer Steuerung“ (S. 96f.). Überredung spiele sowohl im „demokratischen Regierungssystem“ als auch in „Marktsystemen“ eine wichtige Rolle, in Letzteren in Form der „Werbung“. „(F)ast schon zum konstitutiven Merkmal, zum Definitionselement eines ganzen Systems“ werde „Überredung“ aber unter totalitären bzw. autoritären Regimes (S. 98):
Werbung stellt (…) nur eine von zwei umfassenden Strategien der Überredung dar, die beide erst im 20. Jahrhundert (! – T.L.) in Erscheinung getreten sind – beide werden unaufhörlich mit weitgestreuten Zielen und unter Verwendung unermesslicher Ressourcen eingesetzt. Den zweiten Typ bildet die massive zentralgesteuerte und alles durchdringende politische Indoktrination. Überredung der zuletzt genannten Art ist ein wesentliches Instrument des Totalitarismus oder, um die Kontroversen, die sich an diesem Begriff entzündet haben, zu umgehen, von Systemen, die sich durch die ungewöhnlichen Anstrengungen von Eliten kennzeichnen, eine Herrschaftsgewalt zu errichten, die so umfassend, so tiefgreifend, so uneingeschränkt wird, dass sie die Autorität von Kirche, Gewerkschaften, Vereinigungen, Schule und sogar der Familie schwächen muss.
(Lindblom 1980, S. 98)
Das „präzeptorale System“: Musterbeispiel China und die demokratischen Systeme
Den interessanten Aussagen Lindbloms zu Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen Faschismus und Kommunismus sowie zwischen den faschistischen Systemen in Deutschland und Italien (S. 98-100) – und den jeweiligen Indoktrinationsmustern – wollen wir hier nicht weiter folgen.1 Wir wollten sie hier aber zumindest erwähnt haben, weil Lindblom die Notwendigkeit „eines präzeptoralen Systems“ – einer seiner Kernbegriffe – anhand des maoistischen Chinas einführt.
Da die Maoisten Überredung als die wichtigste Form sozialer Steuerung in China praktizierten, müssen wir diesen Fall eingehend untersuchen und ihm zur Erleichterung der weiteren Darlegung einen neuen Namen geben. Da es keine Bezeichnung dafür gibt, wählen wir den Begriff ‚präzeptorales System‘ vom lateinischen praeceptor (Lehrer) abgeleitet.
(Lindblom 1980, S. 100)
Bemerkenswert sind vor allem die Parallelen, die Lindblom zwischen dem ‚präzeptoralen Streben‘ des maoistischen Chinas und demokratischen Systemen zieht: „Wenn sich Herrschaft und Autorität im liberalen Verfassungsstaat des Westens hinter einer Rhetorik der Partizipation und Initiative verbergen, dann darf es nicht überraschen, sie auch in einer präzeptoralen Ideologie verschleiert zu finden. Aber einige bemerkenswert humane Elemente der präzeptoralen Vision sozialer Organisation müssen als glaubwürdig erachtet werden.“ (S. 112)
Allerdings betont Lindblom an anderer Stelle auch Unterschiede:
(D)ie Verengungen des Meinungsspektrums in den Polyarchien (reichen) keinesfalls an die massiven monolithischen Prozesse heran(…), mittels deren die Meinungen der Bürger in den vergangenen faschistischen und gegenwärtigen kommunistischen Systemen kontrolliert werden.
(Lindblom 1980, S. 338)
Das „präzeptorale System“: Erziehung zum „neuen Menschen“
Die „idealtypische Form eines präzeptoralen Systems“ sei eine „massive und höchst einseitige Meinungsbeeinflussung, durch die eine kleine aufgeklärte Herrschaftselite den Massen in gleicher Weise Verhaltensmaßregeln“ gebe, „wie Rousseau es dem Lehrer für die Erziehung von Kindern anriet, in der Überzeugung, dass eine ‚höhere Vernunft‘ jedes Individuum verändere“ (S. 101). „Überredung oder ‚Erziehung‘ zielt als erstes – aber vielleicht nur vorübergehend – auf eine Transformation der Persönlichkeit, auf die Schaffung des ‚neuen Menschen‘ (…)“. Es geht darum zu erreichen, dass Menschen den „kollektiven Interessen ‚autonom‘ dienen“ (S. 103).
„Als Katalog von Absichten verstanden, muss das präzeptorale System mit den liberal-demokratischen Intentionen verglichen werden, die auf eine Regierung durch Überredung abzielen, denn liberale Demokraten preisen ihre wolkig-vage Vision von der Herrschaft ohne Zwang als Mittel individueller Selbstverwirklichung. Auch sie postulieren (…) einen ‚neuen Menschen‘, der nicht ausschließlich durch den Staat geprägt wird, sondern der statt dessen aus einem Wettbewerb von Gedanken und Ideen hervorgeht.“ (Lindblom 1989, S. 113)
Anmerkungen
1 U.a.: Faschismus sei „ein Abkömmling der Demokratie“ (S. 99), der den Menschen nun aber sagt: „Gehorsam schulde man nur einer einzigen Autorität, insbesondere einem einzigen freien Willen – dem des Führers. Die „kommunistische Überredung“ hingegen betone „nicht so eindeutig und rückhaltlos die Autorität auf Seiten des Führers. Statt dessen verspricht sie eine demokratische Zukunft.“ (Lindblom 1980, S. 100)