Dynamisierung von Politik und Presse

Mobilisierung der Öffentlichkeit und parteipolitische Differenzierung

Die 1860er-Jahre führten zu einer seit 1848 nicht mehr gekannten Mobilisierung der Öffentlichkeit. Vor allem brachte der 1859 gegründete Deutsche Nationalverein „die seit einem Jahrzehnt obrigkeitlich abgeblockte Parteibildung wieder in Gang“.

Die Tolerierung dieses Vereins durch Preußen markiert die Aufspaltung des in der Reaktionszeit weitgehend monolithischen Blocks der Einzelregierungen: Diese begannen nun verstärkt um die Unterstützung der ‚öffentlichen Meinung’ zu konkurrieren.

(Piereth 1994, S. 40)

Abb.: Erste Sitzung des konstituierenden Reichstages des Norddeutschen Bundes am 24. Februar 1867. Quelle: http://www.preussen-chronik.de/_/bild_jsp/key=bild_a72.html / Wikimedia Commons, gemeinfrei.

Deutschlandpolitisch erhitzten die Einigungskriege und die historisch fundamentale Umorientierung bei der Nationenbildung von der großdeutschen auf eine kleindeutsche Lösung die Gemüter. In Preußen trieben innenpolitisch vor allem Heeresreform und Verfassungskonflikt die Differenzierung der Interessen voran.

Während der Revolutionsjahre 1848/49 hatten sich als politische Kräfte die Konservativen, die Liberalen und die Demokraten formiert. Nach dem Scheitern der Revolution gewannen die Konservativen die Oberhand. Von den Liberalen spaltete sich 1859 eine Gruppierung ab, aus der 1861 die Deutsche Fortschrittspartei hervorging, welche gegen die Heeresreform Front machte. 1866 spaltete sich von den Liberalen eine weitere Gruppierung ab, aus der sich 1867 die Nationalliberale Partei (Industrielle, Bankiers, protestantisches Bildungsbürgertum) formierte, welche im Reichstag des Norddeutschen Bundes die Stütze Bismarcks wurde, während die Deutsche Fortschrittspartei (Teile des Mittelstandes und des Kleinbürgertums) in der Opposition stand. Von den Altkonservativen löste sich eine Gruppe gemäßigt Konservativer (seit 1871 Deutsche Reichspartei).

(Naumann 2008, S. 48)

Proletarisierung schuf Grundlagen für eine eigene Öffentlichkeit der Arbeiterschaft

Industrialisierung und damit Proletarisierung beträchtlicher Bevölkerungsteile machten große Schritte: „Die deutsche Industrieproduktion hatte die französische 1860 bereits überholt, wenn sie auch noch weit unter der englischen lag.“ 1857 war eine Weltwirtschaftskrise ausgebrochen, die zu Streikkämpfen der Arbeiter führte.

Am Anfang der sechziger Jahre fanden die deutschen Arbeiter in Produktiv- und Verbrauchsgenossenschaften, in konfessionellen Arbeiter- und Gesellenvereinen und in Arbeiterbildungsvereinen Formen des organisatorischen Zusammenschlusses, die aber zunächst noch unter dem Einfluss des bürgerlichen Liberalismus standen.

(Bialowons/Raue 1979, S. 48)

Bald aber schon erreichte der Prozess der Parteibildung auch die Arbeiterschaft. 1863 gründete sich unter Ferdinand Lassalle der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein. 1864 bildete sich in London die sozialistische Internationale Arbeiterassoziation, auch Erste Internationale genannt. August Bebel und Wilhelm Liebknecht schufen 1869 in Eisenach die Sozialdemokratische Arbeiterpartei. Parallel dazu baute die deutsche Arbeiterbewegung eine eigene Presse auf.1

Mediale Wandlungen

Ab etwa 1860 kam es auch „zu einem Aufschwung im Pressewesen“, begünstigt durch „Bevölkerungswachstum, Anstieg des Bildungsgrades weiter Bevölkerungskreise und weitreichender technischer Erfindungen“ (Goros 1998, S. 60). Mit der Aufhebung des Intelligenzblattzwanges 1850 in Preußen und den meisten anderen deutschen Ländern war das Anzeigengeschäft zu einer wachsenden und zentralen Einnahmequelle der bürgerlichen Presse geworden.

Bei dem bedeutendsten Berliner Blatt, der Vossischen Zeitung, kamen in einer Vorweihnachtsnummer des Jahres 1850 durchschnittlich auf 12 Textseiten 28 Inseratenseiten. 1860 hatte sich das Verhältnis jedoch schon auf 16 Textseiten zu 56 Inseratenseiten verschoben. Charakteristisch ist, dass sich das Schwergewicht von den amtlichen Anzeigen immer mehr auf die Geschäftsanzeigen verlagerte.

(Bialowons/Raue 1979, S. 102)

Mit der Zunahme der Werbeeinnahmen2 wuchs die ökonomische Basis für einen autonomeren Journalismus heran, der sich von politischen Parteien, weltanschaulichen Gesinnungen und dem staatlich-administrativen System ein Stück weit entfernen und gegen Ende des Jahrhunderts in Teilen gar lösen konnte. Damit musste tendenziell die Rolle staatlicher Pressesubvention bzw. -korrumpierung wie auch die dirigistischer bzw. repressiver Medienpolitik sinken. Zugleich hatte sich staatliche Pressearbeit mittelfristig auf einen in den nächsten Jahrzehnten zunehmend thematisch universellen, aktuelleren und ereignisorientierteren Journalismus einzustellen, in dem Nachrichten über Tatsachen und Themen nichtpolitischer Zeitungsressorts im Vergleich zur Verbreitung von Gesinnungen immer wichtiger wurden.3

Autor(en): T.L.

Anmerkungen

1 Vgl. Bialowons/Raue 1979, S. 52ff.
2 Dieser Prozess wurde vor allem von Ferdinand Lassalle scharf kritisiert. Vgl. Bialowons/Raue 1979, S. 58ff.
3 Vgl. Liebert 2003.