Hirsch 1980 (II)
Vom technokratisch-individualistischen zum sozial-ganzheitlichen Ansatz: Notwendigkeit öffentlicher Legitimation für Markt-Regulation
Insgesamt werde die „Marktwirtschaft“ von „Einzelentscheidungen beherrscht (…), die Individuen als Antwort auf ihre unmittelbare Situation treffen. Die in den Marktchancen verborgenen Wahlmöglichkeiten werden zu Recht als Freisetzung von Möglichkeiten für das Individuum gerühmt. Leider bedeutet dies nicht zugleich auch die Freisetzung für die Gesamtheit aller Individuen.“ (S. 51)
„Produktivitätswachstum des materiellen Sektors“ und Komplexität von Markt bzw. Wettbewerb hätten insbesondere zu einer „merklichen Zeitknappheit“ beigetragen (S. 128).
Vor allem ist dadurch das Sozialverhalten beeinträchtigt worden. Diese Erosion wird noch verstärkt durch den Einfluss der Werbung und das Egoismus-Ethos des Marktes, einschließlich des Anti-Markt-Ethos der Verbraucherverbände.“ Dies führe dazu, „dass die Kombination dieser verschiedenen, miteinander zusammenhängenden Einflüsse letztlich eine Überbewertung materieller Waren erzeugt hat.
(Hirsch 1980, S. 128)
Für eine De-Materialisierung und Re-Sozialisierung der Gesellschaft braucht es die „Bändigung und Steuerung des Marktes“. Dafür ist „eine ausdrückliche Zusammenarbeit von Individuen erforderlich, die durch das Medium des Staates oder einer anderen Kollektivorganisation handeln“ (Hirsch 1980, S. 192). Eines der Kapitel des Buches lautet „Die Wiedergewinnung der Moral“ (S. 195ff.). Und als Schlussargumentation der Schrift von Hirsch: Der „Übergang zu einer gerechten Gesellschaft“ sei „eine unsichere, mit Ungerechtigkeiten gepflasterte Straße“ (…).
„Für das in diesem Buch behandelte überragende Problem sind in erster Linie keine technischen Verfahren erforderlich, sondern eine öffentliche Zustimmung, ohne die jene gar nicht in Funktion treten können.“ (S. 270) Damit sind wichtige Herausforderungen für öffentliche Kommunikation angesprochen, die weit über einen bloßen Informationsaustausch zwischen Konsumenten und Produzenten hinausgehen.
Auch Keynes verfolgte letztlich einen technokratisch-individualistischen Ansatz
Hirsch charakterisiert die Auffassungen von Keynes als einen „hauptsächlich technokratischen, pragmatischen, empirischen, apolitischen und antiphilosophischen Ansatz“ (S. 180).
Keynes sei von den „noblen und zumeist impliziten Annahmen“ ausgegangen, dass die „Manager des Systems von höheren Zielen motiviert werden als dem der bloßen Maximierung der eigenen Interessen“ und dass im öffentlichen Verhalten „zunehmend weniger Wert auf eine Maximierung monetärer Gewinne gelegt“ würde. Dies habe es Keynes ermöglicht, „das praktische Problem zu umgehen, individualistische Haltungen mit kollektiven Zielsetzungen zu vereinbaren“. (Hirsch 1980, S. 180)
Hirsch weist darauf hin, dass Keynes von einigen seiner Widersacher tieferer Veränderungswille – insbesondere im Verhältnis von Wirtschaft und Staat – unterstellt wurde als beabsichtigt:
Keynes habe sich „gegen ein übertriebenes Prinzip des Laissez-faire“ gewandt, aber aus dem „Prinzip“ keine „Ideologie“ machen wollen, wie manche seiner Gegner. Das historische Zeitalter des Laissez-faire, sofern man überhaupt von einer solchen Ära sprechen könne, habe nie „auf einer dogmatischen Interpretation des Prinzips einer möglichst geringen Intervention des Staates“ beruht“ – so Hirsch (1980, S. 180).
Neue Herausforderungen brauchen neue Lösungen
„Der politische Keynesianismus der 30er Jahre (…) bot eine apolitische Alternative zur polarisierten politischen Wahl der damaligen Zeit. Für alle, die von der Politik Stalins und Hitlers gleichermaßen abgestoßen waren, aber auch von den wirtschaftlichen Vorstellungen der Kommunisten (…), erschien der Keynes’sche Mittelweg fast wie eine Erlösung: er versprach Vollbeschäftigung und zugleich das Festhalten an John Stuart Mill.“ (Hirsch 1980, S. 181)
Indem Hirsch die häufig so titulierte „Keynes‘sche Revolution“ als pragmatischen, nicht programmatischen „Mittelweg“ relativiert, erscheinen die von ihm selbst beleuchteten Herausforderungen umso drängender und tiefgreifender. Für Hirsch ist nicht das Verhältnis von Staat und Wirtschaft die entscheidende Frontlinie, sondern wie und wozu Wachstum erreicht wird und wo dies Grenzen hat. Er stellte dabei „soziale Grenzen“ in den Mittelpunkt – andere und spätere Autoren zeigten auch noch ganz andere Grenzen auf.