PR-Lehrbuch von 1995 (V): PR und Marketing sowie Journalismus
Folgethese (IIb) des Buches von 1995: PR als geplante Kommunikation deckt auch Marketing(-Kommunikation) ab
Auch gegenüber dem Marketing, gemeint ist Marketingkommunikation, sieht Avenarius mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede. „Ein Streit über den Vortritt“ sei „überflüssig“. Die „operativen Felder der geplanten Kommunikation“ seien „beliebig“. (Avenarius 1995, S. 5)
Begründung der Folgethese (IIb)
„Einerseits ist Marketing eine konsequente marktbezogene Denk- und Handlungsweise, die sich die Öffentlichkeitsarbeiter für ihre eigenen Strategien zunutze machen sollten. Andererseits bietet PR bisweilen geeignete Methoden und Instrumente an, mit denen Marktstrategen ihre Produktziele besser verfolgen oder absichern können.“ (Avenarius 1995, S. 5)
Für das Publikum verschwimmen beide Begriffe. Dazu trägt auch das Kompetenzgerangel der PR- und Werbeagenturen bei, wenn sie sich um die Etats von Non-Profit-Organisationen streiten. Jede besteht darauf, dass ihr Instrumentarium die adäquate Lösung bietet. Die betriebswirtschaftliche Literatur stößt nach. Längst hat sie den Begriff des Social Marketing kreiert (Kotler und Roberto 1991). Dieses befasst sich mit sozialen und gesellschaftspolitischen Kampagnen, wie es vormals nur der PR zukam.
(Avenarius 1995, S. 5)
Relativierung der Folgethese (IIb)
Allerdings kommt die Argumentation nicht ohne Widersprüche aus. So dann, wenn zusätzlich von einer „Gesamtkommunikation“ geschrieben wird. Wie hier in einem späteren Aufsatz:
Die Marktkommunikation führt zur eingangs aufgeworfenen Frage, welche Kommunikationsdisziplin die Markenführung übernehmen soll: das Marketing oder die PR. Auch Imageprobleme sind häufig Anlass, über eine Integrierung aller Kommunikationstätigkeiten in einer Organisation nachzudenken.
(Avenarius 1999; auch in Avenarius 2019, S. 191)
Unterschiede zwischen Öffentlichkeitsarbeit und Marketing (bzw. Werbung) gäbe es durchaus, wie er schrieb. Zum Beispiel:
(…) Beziehungsfelder kennt das Marketing nicht. Es denkt in Märkten, nicht in Publika. Märkte kann man schaffen, pflegen oder vernachlässigen, sogar aufgeben. Man hat dabei Zielgruppen im Visier, die man ganz souverän nach eigenen Marktstrategien und Kostengesichtspunkten auswählen, aber auch wieder fallen lassen kann.
Öffentlichkeiten hingegen bestehen, ob es einer Organisation gefällt oder nicht. Man kann sie als Anspruchsgruppen – ‚stakeholders‘ – bezeichnen.
(Avenarius 1999; auch in Avenarius 2019, S. 183)
„(T)rotz vieler Versuchungen“ sei es wichtig, „die durch Gesetze und Verbänderichtlinien vorgeschriebene Trennung von Werbung und Pressearbeit aufrechtzuerhalten“.
(…) die Kontakte zur Fachpresse gehören eindeutig in den ausschließlichen Zuständigkeitsbereich der PR. An dieser speziellen Zuständigkeit sollte nie gerüttelt werden. Journalisten ziehen es vor, ihre Informationen von PR-Leuten zu beziehen, da sie sich dann von den geschäftlichen Beziehungen zwischen ihren Verlagen und den Anzeigen vergebenden Marketers unabhängig wähnen können. Und in den prominenteren Medien sind sie es auch.
(Avenarius 1999; auch in Avenarius 2019, S. 185f.)
Folgethese (IIc) des Buches von 1995: PR als Grundform der Kommunikation deckt auch mediale Kommunikation von Journalisten ab
Die größte Provokation des Buches von Avenarius 1995 liegt aber darin, auch die Tätigkeit der „Presseleute“ (S. 4) bzw. der Medien als PR im Sinne der „Grundform der Kommunikation“ und Beziehungsherstellung aufzufassen. Das war dem Verlag auch klar, denn in der Pressemitteilung heißt es:
Das gilt gerade für Medien. Diese realisieren erst jetzt, in welchem Umfang sie PR-orientiert handeln. Journalisten mögen es nicht wahrhaben wollen, aber das Buch enthält viele Beispiele dafür, dass PR die Grundform auch der medialen Kommunikation ist.
(WBG 1995)
In einem späteren Aufsatz hat Avenarius dies bekräftigt:
Auch Pressekommunikation, so das Fazit unserer Überlegungen, kennt keinen neutralen Ort, keine unparteiische Quelle, keine letztliche Instanz der Verkündigung reiner Sachverhalte. Alles ist durch das Verhältnis bestimmter Medien zu bestimmten Publika bestimmt: eben durch public relations.
(Avenarius 1997; auch in Avenarius 2019, S. 177)
Auch früher schon hatte sich Avenarius gegen eine Betonung von Unterschieden oder gar Entgegensetzung von Journalismus und PR, von „freier“ und unternehmerischer Presse gewandt (vgl. Avenarius 1969; hier weiter vorn behandelt). Dies hat auch ethische Gründe, wie u. a. aus einer späteren Stellungnahme – 2008 als DRPR-Ratsvorsitzender – deutlich wird:
Merten schiebt allein der Presse die Wahrheitsvermittlung zu. Wollte die Presse diesem Anspruch rigoros gerecht werden, müsste sie die bisweilen kontroversen Diskussionen ihrer Redaktionskonferenzen veröffentlichen und nicht nur deren Ergebnisse. (…)
Es ist unlogisch und anmaßend zugleich, auf einer Podiumsdiskussion zu verkünden, Journalisten seien der Wahrheit verpflichtet, PR-Leute ihren Auftraggebern. Unlogisch ist es, zwei unterschiedliche Verpflichtungen miteinander zu vergleichen: eine soziale – gegenüber einem Verlag, einer Redaktion oder einem Auftraggeber – mit einer moralischen: bezüglich gemachter Aussagen, Mitteilungen etc. Der Wahrheit sind beide Kommunikationsberufe verpflichtet, ihren Bezugsgruppen auch. Einer Anmaßung kommt es gleich, Wahrheit für sich alleine zu beanspruchen.
(DRPR 2008)
Das entscheidende Motiv für seine Auffassung von überwiegend Gemeinsamkeiten zwischen Journalismus und PR liegt wohl im Folgenden:
Die Presse sieht sich (…) als Widerpart der PR. Journalisten wollen nicht ‚instrumentalisiert‘ werden und müssen doch oft genug im Nachhinein feststellen, dass sie es wurden. (…) Presse (worunter wir vereinfacht auch den Rundfunkjournalismus verstehen wollen) distanziert sich daher von PR und ihre Distanzierungen – und Diffamierungen – werden nicht nur von ihren Publika übernommen, sondern auch von den Kommunikationswissenschaftlern.
(Avenarius 1997)
Medien als PR
Avenarius führt dafür folgende zentrale Begründungen an:
a) „Medien transportieren zugleich mit jedem Bericht die PR der Beteiligten.“ (Avenarius 1995, S. 4. Im Original nicht kursiv)
Im Gegensatz zur vorherrschenden Neigung, unsere Zeit als Medienzeitalter zu begreifen (Merten u. a. 1994, S. 14), was den Instrumenten der Informationsvermittlung eine zu zentrale Bedeutung gegenüber den Informationsgebern zumisst, (…) halten wir daran fest, dass die primären öffentlichen Informationen PR-gesteuert sind.
(Avenarius 1995, S. 4)
b) „Journalisten, die über Ereignisse berichten, generieren PR für ihr Medium.“ (Avenarius 1995, S. 4. Im Original nicht kursiv)
Unübersehbar sind die Logoi der Sender auf den Mikrofonen der Reporter, deutlich zu hören deren Namen im Abspann; mit wieviel Stolz wird der Ort hinzugefügt, von dem man berichtet! Medienmarketing und Medien-PR sind relativ junge Begriffe; die Sachen selbst gibt es schon immer: der Hinweis, der erste zu sein, der bilderreichste, der seriöseste … Das geht in die Auswahl der Nachrichten ein, in die Tonalität der Berichterstattung. Das hat Konsequenzen für Ansehen und Profil. Das schafft Beziehungen zu einer Zuhörergemeinde. PR ist die Grundform der medialen Kommunikation.
(Avenarius 1995, S. 4)1
Medien üben aber doch öffentliche Kritikfunktion aus
Allerdings gerät die Argumentation von der ‚Presse als PR‘ nicht widerspruchfrei. Zwar wird ihr auch an anderer Stelle im Buch erhebliches Eigeninteresse unterstellt: Gerade die Presse übe (…)
(…) das Prinzip der ‚sauberen Weste‘ häufig mit allen ihr zu Gebote stehenden Mitteln“ aus „und die gegenseitige Kritik (…) ist fast gänzlich verstummt. (…) Selbstkritik, von anderen Organisationen immer wieder eingefordert, fällt den Presseleuten selbst besonders schwer.
(Avenarius 1995, S. 29)
Aber andererseits thematisiert Avenarius unter Berufung auf Saxer und Weischenberg die Vielfalt an Journalismus-Typen (vgl. S. 101). Und vor allem erkennt er an, dass Korrektive zur Öffentlichkeitsarbeit („das Instrument der Pressekritik“, S. 28; „öffentliche(n) Kritik“, S. 29) funktionieren:
Trotz (…) Schönheitsfehler erzeugt die westliche Informationsgesellschaft insgesamt einen hohen Grad an Kritikfähigkeit. Dabei ist es angemessen, diese Fähigkeit insbesondere gegenüber den ‚nicht journalistischen Teilnehmern am Kommunikationsprozess‘ (einschließlich Verlegern) wachzuhalten. Wer eigene Interessen verfolgt, was legitim ist; wer als unbescholten, sogar vorzüglich gelten will, was einsehbar ist; wer also der Öffentlichkeitsarbeit bedarf, muss sich der öffentlichen Kritik stellen.
(Avenarius 1995, S. 29)