PR-Lehrbuch von 1995 (II): Praxis und Prinzipien

Realismus und Ethik

Abb.: Tiel des Buches von Avenarius 1995.

Die Verbindung von realistischer Sicht auf den PR-Berufsalltag (einschließlich eines realistischen Verständnisses von der öffentlichen Meinungsbildung und sozialpsychologischen Vorgängen) und Aufstellen einer PR-Ethik ist ein zentraler Vorzug des Buches von 1995. So schreibt denn auch der Verlag:

Die vorgetragene Ethik des Kommunizierens berücksichtigt diesen PR-Alltag.

(WBG 1995)

Die Kombination von Verständnis für den kommunikativen Alltag und Entwickeln einer Ethik des Kommunizierens kann wohl nur ein Autor leisten, der über lange Zeit sowie in einem bedeutenden Unternehmen in der PR-Praxis leitend sowie reflektierend tätig war und zugleich auch beträchtliche, vor allem auch breite und vielfältige, Einblicke in die Wissenschaft hatte.

Abb.: Ethik der PR ist auch ein wichtiger Lehrgegenstand von Horst Avenarius. Hier der Kopf eines Lehrskriptes von 2012 aus den Arbeitsmaterialien von Avenarius. Quelle: PR-Archiv, Bestand Horst Avenarius.

Bewahrt hat ihn das vor Einseitigkeiten, auch was die Beurteilung (oder Verurteilung) bestimmter Wissensbestände anbetrifft. Als Beispiel:

Die Massenpsychologie genießt bei den heutigen PR-Theoretikern kein großes Zutrauen, was erklärbar sein dürfte durch die Scheu, sich auf die Zusammenhänge von Propaganda, Massenbeeinflussung und Massenhysterie einzulassen. Leugnen viele von ihnen nicht sogar die Existenz von Masse? (…) Und doch müsste der PR-Experte, soweit er der Chefpropagandist seiner Organisation ist, gerade diesen Theoriespiegel zugereicht bekommen.

(Avenarius 1995, S. 58)

Offenheit und Geheimnis

Zu seinem lebensnahen Kommunikations- und Gesellschaftsverständnis gehört, weder totale Öffentlichkeit noch uneingeschränkte Offenheit von Organisationen für realistisch oder sinnvoll zu halten. Avenarius (1995, S. 26) bezieht dies zunächst sogar auf die journalistischen Medien. „Nicht jede Neugierde muss befriedigt werden.“ Es sei festzustellen (…)

(…) dass sich Betroffene immer gegen das Prinzip der totalen Information wehren, auch wenn sie selbst zu den Totalinformierenden gehören. Hier bricht plötzlich die zerstörerische Kraft durch, die jeder Informationstätigkeit latent innewohnt (ebenso wie jeder Kritik und jedem Denken). Gegenpositionen werden sichtbar. Es muss, so lauten sie, Nichtöffentlichkeiten auch in einer Welt geben, die mit dem Anspruch lebt, total durchsichtig zu sein.

(Avenarius 1995, S. 26)

„Wie aber sind sie zu begründen?“, fragt Avenarius weiter:

Zunächst entspricht es humanem Verhalten, dass man nicht alles sagt, was man weiß oder denkt. Mitmenschen werden dadurch geschont. (…) Auch mancher Sachverhalt wird öffentlich nicht oder nur betulich erörtert. Dann spricht man von Tabus. (…) Hinter dem jeweiligen Leisetreten der Presse stand ein gesamtgesellschaftliches Einverständnis. (…) Schweigen und Verschweigen ist nicht mit Lügen gleichzusetzen.

(Avenarius 1995, S. 26f.)

Dennoch komme „eine Tabuisierung dem Phänomen der Lebenslüge nahe“, bringt Avenarius (S. 26) – unter Berufung auf Volker Sommer 19911 – die individuelle Ebene ins Spiel. „Gilt, was Sommer für Individuen beschreibt, auch für Organisationen?“, spinnt Avenarius (Kursivhervorhebung durch T.L.) seinen Faden fort:

Dann muss PR versuchen, bestimmten Tabuisierungen Vorschub zu leisten. In der Tat gibt es nirgendwo mehr Tabus als innerhalb einer Organisation selbst. Auch gibt es kaum eine Organisation ohne Tabus. Mit dem Begriff Tabu unterstellt man die Fähigkeit, es zu benennen und rational zu beschreiben – wenn man es wollte. Mancher Organisationskomplex entzieht sich aber der vordergründigen Beschreibung; manche Verhältnisse bleiben rätselhaft. PR-Leute sollten nicht zwanghaft versuchen, dies zu ändern.

(Avenarius 1995, S. 27)

Ein Übertragen der „positiven sozialen Funktion des Geheimnisses“ aus der „rein persönlichen Sphäre“ auf Organisationen klänge „uns heute (…) recht befremdlich“, relativiert Avenarius (1995, S. 28). „Aber auch Organisationen leben länger, wenn ein Rest von Geheimnis sie umgibt, und sei es nur das Geheimnis ihres Erfolgs.“ (S. 28)

Positivdarstellung und Kritik

Organisationen haben das Bedürfnis, „nur im ‚besten Licht‘ und als Wohltäter dazustehen“ und sich also „geschönter Botschaften“ zu bedienen.

Dies äußere sich „oftmals verkrampft“. „(V)iele Publizisten“ hielten dies „(f)ür eine Sonderform der Lebenslüge“. „Aber es hieße die Augen vor den Tatsachen verschließen, wollte man hier nicht auch dem Eigennutz und der Eitelkeit Tribut zollen. Beides sind urmenschliehe Verhaltensweisen, die sich immer wieder auf Organisationen übertragen lassen.“ (Avenarius 1995, S. 28)

Die Devise ‚Tue Gutes und rede darüber‘ ist ein primär personales Phänomen. Auf die Öffentlichkeitsarbeit angewandt, stellt sie eine Primitivform des Verkündens dar. Aber im Prinzip verhalten sich Organisationen nicht anders als Einzelmenschen. Ihre Kommunikationspolitik ist nicht nur durch das Ziel geprägt, eigene Interessen durchzusetzen. Sie beinhaltet zugleich das davon unterscheidbare Verlangen des jeweiligen Managements, als untadelig dazustehen. Es geht ihnen niemals nur um einen, wenn auch noch so rudimentären, argumentativen Dialog mit Gegnern der eigenen Position. Es geht ihnen stets auch um die eigene Vorzüglichkeit – und bestünde sie beim Einräumen von Schwächen in einer affektierten Bescheidenheit.

(Avenarius 1995, S. 28)

Das Publikum habe sich aber daran gewöhnt: „an die geschönte Verlautbarung“ – und an ihr Korrektiv.2

Man erkennt – und akzeptiert – in der Regel die Einseitigkeit aller Aussagen, die von Unternehmen, Parteien, Gewerkschaften, Vereinen und Behörden dargeboten werden. Schließlich stellt die pluralistische Gesellschaft in sich das Korrektiv zu allen diesen Einseitigkeiten dar.

(Avenarius 1995, S. 29)

Autor(en): T.L.

Anmerkungen

1 „Selbsttäuschungen sind lebensnotwendig, Verdrängungsmanöver tun gut. Nicht die Wahrheit halte gesund, sondern ein gesundes ausbalanciertes Lügensystem (Sommer 1991).“ (Referiert nach Avenarius 1995, S. 26) Ähnlich die Berufung auf Piwinger/Niehüser 1991, die Simmel mit dessen „positive(r) soziale(r) Funktion des Geheimnisses“ reaktiviert hatten: „Georg Simmel hatte 1908 erkannt, dass es für die Aufrechterhaltung sozialer Beziehungen sehr wichtig sein kann, bestimmte Aspekte der eigenen Persönlichkeit eher zu verbergen als zu offenbaren. Geschäftliche wie freundschaftliche Beziehungen, aber auch die Beziehung in einer Ehe basierten darauf, dass die Beteiligten etwas voneinander wissen, aber ebenso auch darauf, dass sie etwas voreinander geheim halten.“ (Referiert nach Avenarius 1995, S. 26) Möglicherweise hat Avenarius über diese Argumentation seinem späteren Kontrahenten in Fragen der PR-Ethik Klaus Merten (siehe an anderer Stelle) Munition geliefert.

2 Öffentlichkeit und Teilöffentlichkeiten haben „gegen solche Manöver das Instrument der Pressekritik zur Hand. Es wirkt umso effizienter, je stärker die betroffene Organisation dem Störfeuer konkurrierender Organisationen ausgesetzt ist.“ (Avenarius 1995, S. 28)