PR-Lehrbuch von 1995 (IV): PR und Propaganda

Folgethese (IIa) des Buches von 1995: Zur PR als geplanter Kommunikation gehört auch Propaganda

Abb.: Horst Avenarius, hier auf einer Podiumsdiskussion in Leipzig 2010.

Avenarius betrachtet Propaganda als eine Art Unterform der PR, ohne allerdings beide – hier unter expliziter Kritik an Kunczik – als „Synonyme“ aufzufassen (1994a, S. 283).

Diese breite Sicht verkörpert auch das Buch von 1995, wie der Verlag zurecht hervorhebt: Die Publikation untersuche (…)

(…) die Strategien und Instrumente, mit denen versucht wird, öffentliche Meinung zu beeinflussen. Sie berücksichtigt die ganze Bandbreite des professionellen Kommunikationsverhaltens: von der Propaganda und Publicity über eine erstmals vorgelegte Kampagnenlehre bis zum Diskurs.

(WBG 1995)

Avenarius (1995, S. 76) behandelt Propaganda zunächst unter der Teilüberschrift „Die Überredungskunst“, wobei – wir wiederholen uns – „zu überzeugen oder zu überreden (…) Grundanliegen jeder Kommunikation“ sei. Aus seiner Darstellung geht klar hervor, dass propagandistische Formen zunächst einmal (‚harmloser‘, ‚partieller‘) Bestandteil alltäglicher öffentlicher Beeinflussungskommunikation in marktwirtschaftlich-demokratischen Systemen sind:

Propagandisten wissen gut auf dem Klavier der Bedürfnisse zu spielen. Auch die Werbung hebt darauf ab. Manche Überzeugungskünstler stellen moralische Vor- oder Nachteile in Aussicht. Dann werden ‚Belohnungen‘ versprochen oder ‚Strafen‘ angedroht. Viele bringen darüber hinaus sogenannte ‚periphere Reize‘ ins Spiel; sie lassen ihren Vorschlag zum Beispiel durch Personen vortragen, die bei ihren Adressaten über Charisma oder Attraktivität oder einfach über eine neutrale Glaubwürdigkeit verfügen. Die Wirtschaft bietet dazu Sportler auf, die Politik die Künste, die Wissenschaft zitiert Genies. Man kann diese Beispiele harmlos nennen, weil sie sich meist nur sehr partiell auswirken.

(Avenarius 1995, S. 77f.)

Die „wirkliche“ Propaganda jenseits „partiell“ wirkender Formen

„Die wirkliche Propaganda“ unterscheide sich von „diffusen Verführungen beträchtlich“. Sie werde „öffentlich proklamiert“ und entstamme „einer eindeutigen Quelle“. Deshalb behandelt sie Avenarius (1995, S. 79) auch unter einer eigenen Teilüberschrift und fragt: „Was leistet Propaganda?“

Zunächst referiert er gängige Auffassungen aus Berufsstand und Wissenschaft, nach denen PR und Propaganda klar abzugrenzen seien. Danach wird aber deutlich, dass Avenarius „wirkliche Propaganda“ auch als reale Kommunikationserscheinung marktwirtschaftlich-demokratischer Systeme ansieht.1

Zwei unterschiedliche Ebenen: Kommunikation um Interessen und um Werte

Als ihn stützende Quelle führt er den Soziologen Eugen Buß (1992) an. Dieser habe nicht nur „die Merkmale der faschistischen und kommunistischen Propaganda“ untersucht, „sondern auch die Bedingungen, unter denen noch hier und heute Propaganda entstehen kann.“ (Avenarius 1995, S. 79)

Dazu gehören vor allem strukturelle Spannungen in einer Gesellschaft; man denke an die unterprivilegierten Schwarzen in den USA oder in Südafrika. Dazu gehören auch konkurrierende Wertvorstellungen: fundamentalistische Strömungen und Bewegungen mit alternativen Prinzipien.

(Avenarius 1995, S. 79)

„Buß folgert selbst: Interessenkonflikte werden in einer pluralistischen Gesellschaft im geordneten Diskurs gelöst, Wertkonflikte dagegen provozieren propagandistische Argumente.“ (Nach: Avenarius 1995, S. 79. Dort ohne Anführungszeichen)

Werte sind prinzipiell nicht verhandlungsfähig. Kompromisse gelten als Verrat an der ganzen Sache. Gegner werden rhetorisch zu Feinden stilisiert, die nichtkonforme Umwelt wird dämonisiert: Der Eindruck wird suggeriert, alles habe sich gegen die bessere, lichtere, reine Idee verschworen.

(Avenarius 1995, S. 79)

Propaganda in der demokratischen Gegenwartsgesellschaft

In seinem Buch von 1995 verortet Avenarius „wirkliche Propaganda“ vor allem zum einen im Zusammenhang mit bestimmten politischen, wirtschaftlichen, sozialen etc. „Verbänden“ bzw. „Gemeinschaften“, um diese zu formen und zum Handeln zu bringen:

Heute sind wir geneigt, Propaganda zu vernachlässigen. Zur Mobilisierung von Wahlkampfverbänden und Betriebsgemeinschaften stellt sie ein geeignetes, vielfach erprobtes Arsenal an Stilmitteln, Symbolen und Ritualen bereit.

(Avenarius 1995, S. 81)2

Und zum anderen identifiziert er Propaganda auf gesamtgesellschaftlicher Ebene insbesondere zur Mobilisierung in militärischen oder anderen Bedrohungsszenarien:

Gegen Propagandafeldzüge ist auch heutzutage nicht jedermann gefeit. Gerade in kriegerischen Zeiten, die es immer wieder gibt, werden nicht nur unaufgeklärte Völkerschaften propagandistisch mobilisiert. Selbst hochentwickelte Informationsgesellschaften unterliegen dann bisweilen einer konzertierten Manipulation.

(Avenarius 1995, S. 81)3

Propaganda als „System“ zur Indoktrinierung der Gesellschaft

„Bedrohlich wird die Überredungskunst dann, wenn sie als System eine ganze Gesellschaft zu indoktrinieren versucht. In totalitären Staaten ist das die Regel.“ (Avenarius 1995, S. 78) So bringt denn auch das Buch von 1995 Beispiele aus der NS-Zeit und der DDR.

Spannender ist aber die Diskussion der These: „Manche Autoren wollen dieses System aber auch in den freieren Gesellschaften ausgemacht haben.“ (Avenarius 1995, S. 78) Der Wortwahl ist zu entnehmen, dass sich der Autor von dieser These distanziert. Als befürwortende Argumentationslinien benennt er (S. 78):

  • „Erstens wurden die Verführungen trotz aller auf den Markt getragenen Diskussionen über Marketingstrategien und Wahlkampfkonzepte für geheim erklärt.“ Beispiel: Vance Packard 1957.
  • „Zweitens musste das System der Verführung für total, sogar für totalitär erklärt werden.“ Beispiel: Jacques Ellul 1962.

Avenarius fasst zusammen: „Was charakterisiert diese Art von Propaganda? Sie ideologisiert alle Erscheinungen des Lebens; sie wirkt in allen Institutionen der Gesellschaft; sie erfasst die Massen, ohne dass sich diese der Indoktrinierung bewusst werden können.“ (Avenarius 1995, S. 78)4

 

Autor(en): T.L.

Anmerkungen

1 In einer späteren Rezension (Avenarius 2005) lässt sich auch erkennen, dass er nichts von der These Bussemers (2005) hält, PR sei die „jüngere Schwester der Propaganda“ bzw. die Propaganda sei zur PR-Forschung ‚transformiert‘. Bussemer tendiere dazu, „unter dem Oberbegriff Persuasion beide Aktivitäten gleichzusetzen (ein Dovifat hätte auch den Journalismus dazugesellt). Und wie bei Kunczik geht damit das Essentielle von Propaganda verloren und damit ihr Schrecken. Sie ist schließlich nicht nur eine persuasive Kommunikationstechnik wie jedwede PR-Kampagne, sondern ein in geschlossenen Gesellschaften äußerst wirksames Manipulationsinstrument zur Mobilisierung von Anhängerschaften. Auch die populistischen Ausstrahlungen in gesellschaftliche Umfelder bleiben vermutlich weiterhin wirksam und dies trotz des Aufkommens ‚propaganda-resistenterer Gesellschaften, die gelernt haben, mit diesem Problem umzugehen‘ (…). Die derzeitigen Einflüsse der Neocons auf das amerikanische Publikum legen diesen Schluss nahe. Das Buch über die Propaganda im 21. Jahrhundert kann vielleicht doch erst später geschrieben werden.“ (auch in Avenarius 2019, S. 208f.)

2 Avenarius macht dabei deutlich, dass es bezüglich der in der Gegenwart angewandten Methoden zu denen der NS-Diktatur sowohl Kontinuität als auch Diskontinuität gäbe: „Nur die aus den Nazizeiten bekannten geballten Einsätze aller verfügbaren Instrumente des Massenauftritts – Fahnen, Transparente, Trommeln und Aufmärsche, Appelle und Lichtsignale – würden einem außenstehenden, aufgeklärten Publikum eher wie eine schlechte Oper erscheinen. Die Inszenierungen der letzten Olympiaden beweisen es. Aber gerade sie zeigen auch, wie anfällig man in der großen, weiten Welt für die Methoden der Nazi-Propaganda ist. (…)“ (Avenarius 1995, S. 81)

3 Dazu liefert er als Beispiel: „‘Die Schlacht der Lügen‘ nannte Dagobert Lindlau John MacArthurs Buch über den Golfkrieg des  Jahres 1991, darin die üble Rolle der PR in einem zentralen Kapitel beschrieben ist: ‚Wie die Babys verkauft wurden‘ (MacArthur 1993, 46ff.).“ (Avenarius 1995, S. 81)

4 Avenarius weiter: „Die revoltierenden Studenten von 1968 sahen es ähnlich. Sie stellten auch die Quelle dieser Propaganda an ihre Pranger: das sogenannte ‚Establishment‘. Ihre Nachfahren sind davon längst abgerückt. Sie sprechen nur noch unverbindlich von der Tyrannis des Zeitgeists oder dem New Age.“ (S. 78)