Im Literarischen Stab auf dem Wiener Kongress I
Herausforderungen an von Hardenbergs Verhandlungsführung in Wien
Ab Oktober 1814 begleitete Varnhagen Hardenberg auf den Wiener Kongress. Dieser stellte eine enorme Herausforderung für Fürsten und Politiker dar, weil er a) schicksalhafte Bedeutung für Europa und alle seine Dynastien bzw. Staaten hatte und ihm b) aufgrund der Komplexität der beteiligten Interessen sowie seiner Dauer eine nicht kalkulierbare Dynamik innewohnte. An Ressourcen und Flexibilität der Verhandlungsführung und -stäbe wurden bisher nicht gekannte Anforderungen gestellt. Dies galt insbesondere für die „deutschen“ Teilnehmer, die damals noch aus „großdeutscher“ Sicht die Interessen von 41 deutschen Staaten und Städten im Nord-Süd-Spannungsverhältnis zwischen Preußen und Österreich in Einklang bringen mussten.
Karl August Freiherr von Hardenberg (1750-1822), Preußens Verhandlungsführer in Wien, hatte bereits während seiner Verwaltungstätigkeit in Ansbach-Bayreuth die Öffentlichkeit als Machtfaktor erkannt. Von 1803 bis 1807 Außenminister und nun, seit 1810 (bis 1822) Staatskanzler, prägte er die staatliche Öffentlichkeitsarbeit Preußens erheblich. Die preußischen Reformer – zuvörderst Hardenberg und Stein – installierten das Öffentlichkeitsprinzip – im Unterschied zu England oder Frankreich – „von oben“, bis 1815 mit einem „provisorischen und experimentellen Charakter“ (Dittmer 1992, S. 65, 68).
Literaten im Auftrage der Politiker
In seiner Rigaer Denkschrift von 1807 hatte Hardenberg auf die Nützlichkeit von Schriftstellern, die die Interessen der preußischen Regierung glaubwürdiger als Zeitungsschreiber vermitteln könnten, verwiesen. Aus diesem Grund beschäftigte der Staatskanzler auch Varnhagen als Mitarbeiter in seinem Literarischen Stab, der aus Staatsbeamten und Schriftstellern bestand.
Zur Rigaer Denkschrift Hardenbergs und zur Arbeit des Literarischen Stabes auf dem Wiener Kongress siehe auch an anderer Stelle im PR-Museum (Beiträge zur staatlichen Öffentlichkeitsarbeit Preußens).
Eine der ersten Arbeiten, die in Wien Varnhagens „ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm“ und „auf die der Staatskanzler das größte Gewicht legte“, betraf „die preußische Erwerbung von Sachsen, welche zwar früher festgestellt worden war, jetzt aber von mehreren Seiten hart angefochten wurde und immer schwerer und bedenklicher zu werden drohte. Auf die Meinung vermittelst der Presse zu wirken schien von äußerster Wichtigkeit, zumal die Gegner dieses Mittel mit großem Erfolg anwandten (…)“ (Varnhagen 1971, Bd. 2, S. 47).
Interdependenzen von Publizistik und Kongressöffentlichkeit
Schon vor Beginn der Verhandlungen lieferten sich die österreichische und preußische Presse ein „publizistisches Kesseltreiben“ (Hofmeister-Hunger 1994, S. 279, auch 291f.). Nachdem Metternich von dem Sachsen-Polen-Pakt zwischen Preußen und Russland erfahren hatte, wetterte dieser intensiv gegen Hardenberg. Letzterem wurde vorgeworfen, sich mit seinen Annexionsforderungen vom „allgemeine[n] Wohl“ und der „Sache Europas“ abgekehrt zu haben (Griewank 1954, S. 225). Neben diesem Umstand rückte auch England von seiner ursprünglichen Zustimmung, Preußen könne Sachsen einnehmen, ab (S. 225f.).
Um der steigenden Isolierung Preußens in der Kongressöffentlichkeit entgegenzuwirken, Gebietsansprüche wenigstens teilweise durchzusetzen und die Integration in ein stabiles Staatensystem sicherzustellen, zog Hardenberg alle Register für eine möglichst erfolgreiche Pressearbeit auch während des lang andauernden Kongresses. Diese war primär international bzw. außenpolitisch motiviert, wozu auch gehörte, die „Stimmung Sachsens für die Einverleibung reif (…) zu machen“ (Groth 1929, S. 83).