Verhältnis Wirtschaft-Politik noch ausbaufähig
Versäumnisse und Fehler von Wirtschaftsakteuren
Bei der Analyse der Ausgangsbedingungen und der Planung des Wirtschaftsprojektes wurden die sozialen, kulturellen und religiös-landsmannschaftlichen Verhältnisse und Spannungen (z.B. schwerste Religionsunruhen 1964 in der Region) des Standortes – bis hinein in die Werksleitung – viel zu wenig verstanden und – auch durch die indische Planung selbst – zu wenig einbezogen. „Wird berücksichtigt, dass mit der Errichtung des Hüttenwerkes in diesem Raum auch einige soziale Probleme (wie Arbeitslosigkeit, Rückständigkeit oder Armut der Bevölkerung) einer Lösung näher gebracht werden sollten, dann muss das hierin erzielte Ergebnis als völlig enttäuschend bezeichnet werden.“ (Stümpel 1966, S. 143)
Bezüglich der westdeutschen Unternehmer und Fachleute dauerte es seine Zeit, bis sie die „Herausforderung erkannten, und nur langsam und widerwillig nahmen die deutschen Firmenchefs die Tatsache hin, dass ihre technischen Leistungen im indischen Dschungel, ob sie es nun wünschen oder nicht, politisch gewertet werden.“ (Spiegel 1960, S. 25)1
Ein eher technizistisch-ökonomischer Blick auf das Indien-Geschäft übersah erstens das allgemeinpolitische, öffentliche Interesse der Inder an ihrer nationalen und lebensstandardlichen Fortentwicklung sowie die vorhandene ideologisch-wirtschaftspolitische Differenziertheit dieses Interesses in Indien selbst. Aus Letzterer resultierte, dass von der indischen Öffentlichkeit und Presse nicht per se Zustimmung und Dankbarkeit für das westdeutsche Engagement zu erwarten war. Und zweitens vernachlässigte das ingenieursmäßige Herangehen die Rolle des Projektes in der globalen Systemauseinandersetzung zwischen Ost und West.
Versäumnisse und Fehler von politischen Akteuren
Auch staatliche Stellen der Bundesrepublik haben die außenwirtschaftlichen und weltpolitischen Dimensionen des Projektes als ein „Politikum par exellence“ in einem „ideologisch wie wirtschaftlich umkämpften Teil Asiens“ (Stümpel 1966, S. 124) zumindest anfangs unterschätzt. Die Bundesregierung ging davon aus, „dass die Rourkela-Aufträge aufgrund der bestehenden marktwirtschaftlichen Konzeption als eine ausschließliche Angelegenheit der beteiligten Firmen zu betrachten seien – eine im Bereich normaler (! – T.L.) Ausfuhrgeschäfte durchaus vertretbare Auffassung“. (Stümpel 1966, S. 123) „Angesichts der Größe und politischen Tragweite dieses Projektes wäre eine frühzeitige und auch nachhaltige Einschaltung der Bundesregierung in den Projektablauf nicht nur gerechtfertigt sondern zwingend notwendig gewesen“, meint zumindest Stümpel (1966, S. 124), der der Unternehmensseite zuzurechnen ist.2
Dabei wurden auch handwerkliche politische bzw. diplomatische Fehler begangen.3 Das offizielle politische Desinteresse – zumindest anfänglich – am „Ausfuhrgeschäft“ bedeutete aber nicht, dass es keinerlei „politischen“ Absichten gegeben hätte. „Mit dem Bauvorhaben in Rourkela, das sowohl ein Stahlwerk als auch eine angrenzende Stadt umfasste, verdichteten sich Hoffnungen und Erwartungen von privatwirtschaftlicher und auch staatlicher Seite in der BRD, die sich in der massenmedial vermittelten politischen Öffentlichkeit spiegelten. Über westdeutsche Unternehmen sollte eine Verbesserung des internationalen Prestiges der BRD erlangt und der westdeutsche Staat als wirtschaftlich erfolgreich und zudem großzügig anerkannt werden.“ (Franke 2017, S. 140)
Zunehmender Handlungsdruck auf Politik und Staat
Der Handlungsdruck auf politisch-staatliche Stellen der BRD wuchs in dem Maße, wie sich erstens die konkreten Probleme bei Bau und Betrieb des Stahlwerkes anhäuften und offensichtlich von den Firmen allein nicht bewältigt wurden, zweitens sich die Finanzierungsproblematik verschärfte und drittens das westdeutsch-indische Verhältnis ab 1961 verschlechterte. „Staatliche Interessen wurden zusehends wichtiger, vor allem weil Industriemanager die Politik in diese Richtung beeinflussten.“ (Tetzlaff 2018, S. 205)
Auf den ersten Punkt gehen wir später noch ein. Zweitens gelangte der Staat – gerade auch durch das Rourkela-Projekt – zur Einsicht, dass generell die „Exportfinanzierung auf eine völlig neue Grundlage“ zu stellen sei. Verstärkt durch die zunehmenden indischen Devisenprobleme, wurde die „‘Finanzierung Rourkelas eine Angelegenheit der Regierungen‘“ (Tetzlaff 2018, S. 205). Zeitweilig brachten unterschiedliche Ansichten zur Finanzpolitik die Westdeutschen auch in einen Gegensatz zu den USA sowie zu indischen Politikern. Da dies auch kommunikative Auswirkungen hatten, kommen wir weiter hinten noch einmal darauf zurück.
Zu Drittens: Die Ursachen für die politische Verschlechterung gehen bis auf 1958 zurück.
Die Suche nach politischen Verbündeten“ der westdeutschen Bundesrepublik „wurde aufgrund des Berlin-Ultimatums – der Forderung nach Abzug der Westmächte aus West-Berlin – im Zuge des Versuchs von Chruschtschow, die Machverhältnisse in Europa zu Gunsten der UdSSR zu verändern, ab 1958 für Adenauer immer dringlicher.
(Franke 2017, S. 98)
„Die Hoffnung, Nehru als politischen Verbündeten im Ringen um den Alleinvertretungsanspruch der BRD für Deutschland gewinnen zu können, erfüllte sich Ende der 1950er Jahre weder für die Journalisten noch für die Politiker.“ (Franke 2017, S. 137) „Chinas Konfrontationskurs gegenüber Indien“ 1958 hingegen „veranlasste Nehru zu einer weiteren Annäherung an die UdSSR und zu einem Aufweichen seiner Politik der Blockfreiheit“. Die BRD hatte zwar zwischenzeitlich mit Pakistan eine regionale Alternative, was aber das Verhältnis zu Indien weiter belasten musste: „Die Stabilisierung der politischen Situation im Nachbarland Pakistan durch Ayub Khan und dessen eindeutige Haltung in der Deutschen Frage erleichterten der westdeutschen Regierung eine distanziertere Politik gegenüber Indien.“ (Franke 2017, S. 97f.)
Anmerkungen
1 „Der deutsche Botschafter in Neu-Delhi, Dr. Wilhelm Melchers, erinnert sich: ‚Die Herren der Industrie wollten von diesen politischen Aspekten nichts wissen. Sie sagten: >Wir verkaufen den Indern ein Hüttenwerk, und damit Schluss. Mit Politik haben wir Firmen nichts zu tun<.‘“ (Spiegel 1960, S. 25f.)
2 Auch Haubold 1967 erwähnte, dass „Bonn erst drei Jahre später“ – gerechnet seit Beginn der Verhandlungen der Inder mit den westdeutschen Lieferfirmen – „auf den Plan (trat), als die indische Regierung um deutsche Bundeskredite bat“.
3 So konnte es – laut Stümpel – passieren, dass die „zuständige konsularische Vertretung der Bundesrepublik die Baustelle, auf der immerhin die größte (S. 123) geschlossene deutsche Kolonie Asiens lebte, aus eigener Anschauung anfangs gar nicht kannte. Es hätte auch nicht vorkommen dürfen, dass die deutschen diplomatischen Vertretungen in Indien die durch Rourkela aufgeworfenen Probleme erst verhältnismäßig spät erkannten.“ (Stümpel 1966, S. 124) Allerdings gab es auch Kritik in umgekehrter Richtung: „Erinnert sich der (BRD-) Botschafter (in Indien – T.L.): ‚Wir haben dem Auswärtigen Amt über die Missstände in Rourkela berichtet, unser Bericht wurde den Firmen wettergereicht. Aber die Herren der Industrie waren beleidigt und meinten, die Dinge in Rourkela gingen die Botschaft nichts an.“ (Spiegel 1960, S. 23)