Das ungünstige Rourkela-Image in den Medien vor und um 1960 – Eigendynamiken und Ursachen

Berichterstattung in der westdeutschen Heimat: Exotik wichtiger als Realität

Journalisten schrieben in der westdeutschen Bundesrepublik der 1950er-/60er-Jahre für „ihr“ Publikum nach den Regeln und Erfolgsmaßstäben, die sie gewohnt waren. Da der gewöhnliche damalige Bundesdeutsche Indien nie besucht hatte, das Indien-Bild bis Mitte der 1960er-Jahre von Presse und Hörfunk – noch nicht von authentischen Fernsehbildern – bestimmt wurde und der (Fern-) Reiseboom erst ab Mitte der 1960er-Jahre begann, aber auch die staatlichen Beziehungen zu Indien den Hauch des Außergewöhnlichen hatten, dominierten exotische und unterhaltsame Aspekte einen Großteil der Berichterstattung.1

Selbst Journalisten, die vor Ort – allerdings meist nur zwei Tage und „im deutschen Klubgelände, weitab vom Werk“ – waren, habe „ein allgemeiner Überblick über den vielschichtigen Gesamtzusammenhang als auch die ernsthafte Absicht, sich an Ort und Stelle, nämlich auf der Baustelle selbst, hierum zu bemühen“, gefehlt. (Stümpel 1966, S. 163)

Abb.: Auszug aus dem geschmähten „Krokodil“-Artikel des Hamburger Abendblattes, 20./21.9.1958, Nr. 219, S. 24. Dies ist aber zugleich ein Beispiel dafür, dass die Kritik – zumindet ihre Rigorosität – nicht immer gerechtfertig ist. Zweifellos kommt auch dieser Artikel nicht ohne Exotik aus, ist aber überwiegend sachlich gehalten.

„Der Schaden, den Artikel deutscher Berichterstatter anrichteten, war noch vergleichsweise gering, solange sie sich nur in exotischen Übertreibungen ergingen“ (Sperling 1965, S. 213). Vermutlich haben sich die damaligen westdeutschen Journalisten stundenlang Mühe bei den folgenden Textideen und Formulierungen gegeben. „‘Rourkela – das ist Schweiß und Blut‘ – ‚Die Deutschen im indischen Treibhaus‘ – ‚Eine Goldgräber-City im indischen Dschungel‘ – ‚Auf die Affen, ihr Bäume‘ oder: ‚Nicht mehr lange, dann werden den Krokodilen2 im Brahmanifluss die Abwässer von Kokereien und Gasreinigungstürmen über die schuppigen Leiber fließen. Und wenn Leoparden und Bengaltiger nachts vom Feuerschein der Gießereien und Hochöfen angelockt, das Industrieviertel umschleichen, wird ihnen der Qualm aus Hütten und Schloten in die Nase steigen‘.“ (Stümpel 1966, S. 163f. unter Zitierung mehrerer Medienbeiträge. Vgl. auch Sperling 1965, S. 213)

Medien in Indien und Westdeutschland: Sensationalität häufig vor Richtigkeit

„Schlimmer war es schon, wenn (…) unrichtige Dinge berichtet oder makabrer Unfug3 geschrieben wurde“ (Sperling 1965, S. 213). Und wenn die Journalisten – sowie die PR-Manager der betroffenen deutschen Unternehmen, die das hätten von vornherein beeinflussen oder spätestens im Nachhinein korrigieren müssen – bei dieser „zum Teil technisch und sachlich unrichtigen oder unverantwortlich oberflächlichen Betrachtungsweise (…) die möglichen indischen Pressereaktionen völlig außer Acht gelassen“ haben (Stümpel 1966, S. 164).

So wurde ein an sich wohlmeinender, aber in Verkennung der Gesamtzusammenhänge misslungener Artikel eines führenden westdeutschen Nachrichtenmagazins in Anlehnung an einen schlechten deutschen Film über Indien mit der Überschrift: ‚Rourkela – indisches Grabmal der deutschen Industrie‘ versehen und schon Tage danach in der indischen Presse wie folgt kommentiert: Bonn Weekly criticises ‚Master Race‘ Complex Rourkela has become the ‚Indian tomb of German enterprise‘ (…) the ‚Stalingrad of German industry‘.

(Stümpel 1966, S. 164, unter Zitierung des Spiegel 14/1960 und von The Times of India 4.4.1960)

Sachliche Kritik, „die zur Abstellung von Übelständen und Fehlern sowie zu praktischen Vorschlägen führte, wurde nur in einem Teil der deutschen Berichterstattung geübt. Es gibt aber genügend Beispiele, die zeigen, dass indische Tageszeitungen derartige sachliche Kritik so übernehmen, wie sie gemeint ist, und dabei auch ihren Landsleuten – wo es nötig erscheint – deutlich die Meinung sagen.“ (Sperling 1965, S. 215)4

Substanzielle Ursachen für das schlechte Medien-Image

Worin lagen aber nun die Hauptursachen, dass Rourkela als „deutsch-indisches Problemkind“ empfunden wurde?

Franke (2017, S. 141) meint: „Zwei der Ursachen lagen an einer in Indien, aber auch in der BRD konstruierten Ost-West-Konkurrenz mit dem ebenfalls im Bau befindlichen russischen Stahlwerk in Bhilai sowie an einem unreflektierten Übertragen der eigenen Kulturmuster.“ Die damit benannten politischen und gesellschaftlich-kulturellen Problemkreise sind genau solche, die Notwendigkeiten moderner und umfassender Unternehmenskommunikation beschreiben, die über eine rein leistungs- bzw. fachbezogene Informationstätigkeit hinausgeht. Von konkreten Defiziten der PR-Arbeit sehen wir hier jetzt ab, dazu im nächsten Kapitel bzw. auf der nächsten Unterseite mehr.

Ost-West-Konkurrenz und ihre mediale Überhöhung

Zur ersten Ursache: Anlässlich der Teileröffnung im Februar 1959 schrieb der Schweizer Journalist Peter Schmid, die Bundesrepublik sei über Vorhaben wie in Rourkela „in dem Wettkampf zwischen der freien und der kommunistischen Welt in hohem Maße der Exponent des Westens geworden“ (Zitiert nach Franke 2017, S. 141).

Der in der indischen Öffentlichkeit ausgetragene Vergleich der beiden Bauvorhaben in Rourkela und Bhilai, der zu Ungunsten der Deutschen ausfiel, war für Schmid aufgrund der Unterschiedlichkeit der beiden Stahlwerkskonstruktionen zusammen mit weiteren für das deutsche Vorhaben ungünstigen Faktoren nicht richtig.

(Franke 2017, S. 142).

Reale fachlich-technische Probleme, die möglicherweise teilweise mit politischer Absicht verschärft wurden

Solche ungünstigen Faktoren bestanden zum Beispiel darin, wie der Journalist und Filmemacher Hans Walter Berg in seiner ersten Sendung im Rahmen der Serie „Gesichter Asiens“ erläuterte, in Schwierigkeiten der Materialanlieferung aufgrund mangelnder Eisenbahnkapazitäten.5 Dabei sahen sich westdeutsche Firmen „sowohl aus der Sicht Schmids als auch in dem ein Jahr später folgenden Bericht des Spiegel als Opfer von Intrigen“ (Franke 2017, S. 146).6 Zum Beispiel kassierten indische Arbeitgeber etwa den doppelten Betrag von ihren deutschen Auftraggebern, als sie indischen Arbeiterinnen auszahlten.

(…) (D)adurch kamen die Deutschen in den Ruf, das Ausbeutertum indischer Unternehmer zu unterstützen. (…) Dann zogen die betrogenen Frauen mit roten Fahnen demonstrierend durchs deutsche Hüttenwerk – für die kommunistischen Zeitungen Indiens ein Augenschmaus.

(Spiegel 1960, S. 31. Auch zitiert in Franke 2017, S. 148)

Der Spiegel versuchte in einer Titelstory 1960 „den Problemen im Detail nachzugehen“ (Franke 2017, S. 146).7 „Die bisherige Geschichte des deutschen Hüttenwerks Rourkela ist eine Kette (…) kleiner, aber folgenschwerer Pannen, die nicht nur dem Ruf der beteiligten westdeutschen Firmen, sondern auch dem Prestige der Bundesrepublik in Indien schaden.“ (Spiegel 1960, S. 23)

Aber auch der Spiegel sah im Framing der konkreten Probleme durch den internationalen Ost-West-Konflikt die entscheidende Ursache:

Die produktionstechnischen Probleme in Rourkela wären nicht so schwerwiegend, wenn die Westdeutschen allein im indischen Dschungel ein Hüttenwerk bauten und es keine Vergleichsmöglichkeiten gäbe. Aber die Inder können Fortschritte und Leistungen der deutschen Firmen und Monteure leicht messen, wenn sie nach Bhilai – zum russischen Hüttenwerksprojekt – blicken. Hier demonstrieren die Sowjetmenschen, dass sie in der Lage sind, alle Schwierigkeiten zu überwinden und ein gleichgroßes Hüttenwerk zu errichten, dessen Produktion sofort auf vollen Touren läuft.

(Spiegel 1960, S. 25. Auch zitiert in: Franke 2017, S. 146)8

Erhard Haubold – ab Mitte der 1960er-Jahre für die Gemeinschafts-PR der deutschen Industrie in Indien verantwortlich –  äußerte sich in einem Interview mit Günter Bentele 2020 wie folgt über die Hauptursachen der anfänglich schwierigen Lage des Rourkela-Projektes (Haubold 2020c):

Mangelnde kulturelle Sensibilität

Zur zweiten Ursache: „Schmid bestätigte (…) die Wahrnehmung in der indischen Öffentlichkeit von den unsympathischen Deutschen, indem er eine hierarchische, auf kolonialen Denkmustern basierende Beziehung zwischen Deutschen und Indern beschrieb.“ (Franke 2017, S. 142)9

Berg hingegen thematisierte u.a. eine „aus seiner Sicht rückständige indigene indische Gesellschaft“, „verharmloste (…) Vorwürfe zu sexuellen Übergriffen deutscher Arbeiter auf Inderinnen“ und stellte „das Bauprojekt in Rourkela als Beitrag der Bundesrepublik für eine wirtschaftliche und soziale Veränderung in der Region mit Wirkungen auf ganz Indien“ dar.“ (Franke 2017, S. 144)10

Der Spiegel 1960 diagnostizierte „mangelnde(s) kulturelle(s) Einfühlungsvermögen“, das aber „erst durch die Konkurrenz mit den Russen massiv in der indischen Öffentlichkeit wahrgenommen“ wurde (Franke 2017, S. 146).11 Die deutsche Seite akzeptiere Indien nicht angemessen: In Wirklichkeit bauen die Russen das Hüttenwerk genauso wie die Deutschen; in Wahrheit fungieren die Inder in Bhilai genauso wie in Rourkela als Hilfspersonal. Aber nach den Buchstaben des Bhilai-Vertrages gebührt aller Ruhm den Indern, nach dem Text des Rourkela-Vertrages aller Ruhm den Deutschen.“ (Spiegel 1960, S. 28. Auch zitiert in Franke 2017, S. 147)

 

 

Autor(en): T.L.

Anmerkungen

1 Selbst heute noch – in Zeiten von Globalisierung, Internet und Fernreisetourismus – ist das Vorstellungsbild über Indien doch recht festgelegt und traditionell ausgerichtet: „Indien nimmt seit langem einen besonderen Platz in der öffentlichen Wahrnehmung der deutschen Gesellschaft ein. In der heutigen Mediengesellschaft mit ihrer kontinuierlichen und schnellen Vermittlungsleistung über das Internet ist es seit Beginn der 1990er Jahre recht einfach, sich Wissen über das wohl bedeutendste Land Südasiens anzueignen. Der Tourismus bietet über eigene Kontakte – transnationale Begegnungen – aufgrund der Wohlstandsexplosion in der BRD in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg und des sich ab der Mitte der 1960er Jahre abzeichnenden Reisebooms zudem Alternativen zu Dokumentationen und Reportagen. Vorstellungen von Südasien kreisen größtenteils um Indien, Bollywood und den hinduistischen Mystizismus. Das rigide Sozialsystem (das Kastensystem), die Vorstellung von unvorstellbarem Elend und die Benachteiligung der indischen Frauen gehören ebenso zum bis heute aktuellen von Indien dominierten Südasienbild.“ (Franke 2017, S. 13)

2 Dazu Sperling 1965, S. 213: „In den Jahren 1957 bis 1964 wurde im Brahmani ein (!) Krokodil von Dorfbewohnern gesichtet und schließlich von einem deutschen Arzt geschossen.“ Bei dem „Krokodil-Beitrag“ aus der seinerzeit größten deutschen Abendzeitung handelt es sich um: Henning, Gustav Adolf: Indien baut ein ‚Ruhrgebiet‘. In: Hamburger Abendblatt. 20./21. September 1958. Fairerweise muss man allerdings sagen, dass die zitierten Zeilen im Beitrag typografisch anders gesetzt sind und es sich insgesamt um einen ganzseitigen, überwiegend sachlich gehaltenen und informationsreichen Beitrag handelt. Der Autor wird als „wissenschaftlicher Mitarbeiter“ bezeichnet. Die zitierten Zeilen – wie auch ein entsprechendes Abbildungsmotiv – sind wohl als Konzession an den Charakters des „Abendblattes“, noch dazu in der Wochenendausgabe, zu sehen.

3 Dazu Sperling 1965, S. 213: „Beispielsweise wurde kolportiert, indische Firmen zahlten bei Todesfällen unter ihren Arbeitern der Witwe eine Abfindung nur, wenn der Tote dabei vorgezeigt würde. Und weil dies mit derselben Leiche verschiedentlich mehrmals praktiziert worden sei, schnitten sie jetzt ‚dem Toten bei der Entrichtung der Abfindung das linke Ohr ab, das sie dann quasi als Quittung einbehielten‘. Dazu kamen mancherlei Takt- und Gedankenlosigkeiten, wenn z.B. gebildete Inder in Bildunterschriften als ‚Eingeborene‘ bezeichnet oder die-Leistungen der Inder an dem Gemeinschaftsprojekt völlig übergangen wurden.“

4 Als Beispiel für eine solche indische Pressestimme: „Die Amerikaner haben gerade begonnen [aus Rourkela] zu lernen. Sie legen deshalb Bedingungen fest, bevor sie einwilligen, die Arbeit an dem Projekt Bokaro zu übernehmen. Sie wollen die Kontrolle und Aufsicht während der Aufbauarbeiten. Die Deutschen in Rourkela waren hierin nicht konsequent. Ihr Ansehen hat deshalb gelitten und wird weiter Schaden nehmen (…) Zurzeit haben die Deutschen in Rourkela nur eine beratende Tätigkeit und sind machtlos, wenn ihre Hinweise nicht beachtet werden. Die Öffentlichkeit macht sie jedoch für jeden Fehler bei der Arbeit verantwortlich (…) Verantwortung übernehmen zu müssen, ohne Anordnungsbefugnis zu haben, ist gewiss niederdrückend. Wenn die indische Taktik fortgesetzt wird, die Arbeit in liederlicher Weise zu erledigen und dann die Verantwortung für alles, was schief geht, den Ausländern zuzuschieben, werden anerkannte Herstellungsbetriebe der nicht-kommunistischen Welt es ablehnen, bei der Entwicklung unseres Landes mit uns zusammenzuarbeiten.“ (The Poona Daily News. Poona. 17. Januar 1962. Zitiert nach: Sperling 1965, S. 221f.)

5 „(…) Materialanlieferung über die nur eingleisige Verbindung, die von Kalkutta über Rourkela bis Bhilai führte, und damit den Vorteil für die Russen, die eine weitere zweigleisige Verbindung von Visakhapatam allein für sich hatten.“ (Franke 2017, S. 144)

6 „Zum Teil schieben die Deutschen die Transportschwierigkeiten aber auch den kommunistisch geführten Dockergewerkschaften in die Schuhe; diese sollen die deutschen Transporte sabotiert und dafür die Sowjets begünstigt haben (…).“ (Schmid: Deutsche und Russen im Wettstreit. In: Der Monat 1959, S. 11. Zitiert nach: Franke 2017, S. 142)

7 Die Spiegel-Redakteure „verorteten die Ursachen auf deutscher Seite in mangelnder Kooperation und einer Mischung aus kultureller Tollpatschigkeit, Naivität und Überforderung sowie in der Konkurrenz mit Bhilai. Auf indischer Seite machte die Redaktion mangelnde Fachkompetenz und überzogene Vorstellungen für das Desaster verantwortlich“. (Franke 2017, S. 146)

8 Der sehr lange und inhaltlich kompetente und differenzierende Spiegel-Artikel über Rourkela kann sicherlich als eine der „Sternstunden“ dieses Nachrichtenmagazins gelten, auch wenn nicht jede einzelne Aussage aus heutiger Sicht Bestand haben kann.

9 „Man liebt sich nicht und heuchelt auch keine Liebe. Grobheiten beantwortet der gewaltlose Inder mit einem Lächeln, hinter dem er seine tieferen Gedanken verbirgt. Wenn ein Arbeiter in Rourkela einen Deutschen anspricht, liegt Hinterhältiges in seinem Blick. Und wenn der Deutsche ihm antwortet, sieht er über ihn hinweg, behandelt ihn, wenn er aufdringlich wird, wie Luft.“ (Schmid: Deutsche und Russen im Wettstreit. In: Der Monat 1959, S. 11. Zitiert nach: Franke 2017, S. 143)

10 Franke weiter: „.Die Wahrnehmung des Projekts als entwicklungspolitische Maßnahme, ‚Hilfe zur Selbsthilfe‘ und moralische Verpflichtung verwischte die Wahrnehmung eines Auftrags, den der indische Staat über Kredite zu möglicherweise marktüblichen Konditionen finanzierte und den westdeutsche Unternehmen angenommen hatten, um Gewinne zu erzielen.“

11 „Die Redaktion verwies insbesondere auf das Alkoholverbot und das Insistieren von deutscher Seite auf einer Ausnahmegenehmigung sowie auf den Bau des für Deutsche bestimmten Krankenhauses und des Klubs.“ (Franke 2017, S. 146f.)