Rahmenbedingungen und deutsch-indische Interessenlagen
Nützlichkeit des Rourkela-Projektes für die Bundesrepublik
Grundsätzlich war das Rourkela-Vorhaben nicht nur für die einzelnen Unternehmen lukrativ bzw. chancenreich, sondern es wurde westdeutscherseits auch wirtschafts-, finanz- und handelspolitisch als nützlich erachtet.
Nach einem kräftigen Wirtschaftswachstum sahen deutsche Politiker und Unternehmer den Handel mit Schwellen- und Entwicklungsländern als Unterstützung für einen anhaltenden Wirtschaftsaufschwung. In einer programmatischen Schrift trug Wirtschaftsminister Ludwig Erhard 1953 diesem Gedanken mit Bezug zum währungspolitisch wichtigen Sterling-Raum und Indien als seinem größten Wirtschaftsblock Rechnung.
(Tetzlaff 2018, S. 192)1
Bereits 1952 war zwischen der Bundesrepublik Deutschland (BRD) und Indien ein Handelsabkommen geschlossen worden, das „seit seiner Novellierung 1958 bis heute gültig(…)“ sei (Tetzlaff 2018, S. 192).
Problematische und hemmende Faktoren für das Vorhaben: Indiens Planwirtschaft und divergierende Interessen
Ein Teil der Zurückhaltung und Unentschlossenheit der westdeutschen Seite bei der Durchführung und vor allem Kommunikation des Rourkela-Projektes lag darin begründet, dass sich einerseits das indische Gesellschafts- und Wirtschaftssystem deutlich vom westdeutschen („soziale Marktwirtschaft“) unterschied und auch stark auf zentrale Planung setzte, also staatssozialistische Züge aufwies.2 Ganz am Anfang schien dies noch weitgehend ohne Belang zu sein, da das Stahlwerk in Indien zunächst innerhalb des privaten Sektors gebaut werden sollte3, was von den Indern aber bald revidiert wurde.
Seit 1950 arbeitete in Indien eine staatliche „Planning Commission“, „die mit der Ausarbeitung der Fünfjahrespläne beauftragt wurde“ (Stümpel 1966, S. 23). Im Fokus stand auch der Eisen- und Stahlbedarf, der schließlich im zweiten Fünfjahresplan auf die Zielmarke einer Rohstahlkapazität von 6 Millionen Tonnen festgelegt wurde.4 Um diese zu erreichen, sah die indische Wirtschaftsplanung mehrere Erweiterungs- und Neubauten vor (S. 33). Die Hälfte des Bedarfs sollte durch drei neue Hüttenwerke „von je 1. Mill. t Rohstahl“ erzielt werden (Stümpel 1966, S. 37. Vgl. auch Franke 2017, S. 140, und Tetzlaff 2018, S. 202ff.): das westdeutsche Projekt Rourkela, das sowjetische in Bhilai und das englische in Durgapur.5
Die sowjetischen und englischen Interessen artikulierten sich allerdings erst, „(n)achdem der erste Vertrag zwischen der indischen Regierung und den deutschen Firmen abgeschlossen worden war und die geplante Kapazität von 500.000 auf 1 Mill. t/J. Rohstahl erhöht werden sollte“ (Stümpel 1966, S. 38). Vor dem deutsch-indischen Zusammenkommen hatten die Inder auch schon – seinerzeit erfolglos – in den USA, England und Japan angeklopft (Stümpel 1966, S. 41. Vgl. auch Unger 2008, S. 371).
Das Entstehen des Rourkela-Werkes im staatlichen Wirtschaftssektor war für die Westdeutschen nicht ohne Pikanterie. Denn „das westdeutsche Ringen um neue Märkte in blockfreien Staaten wie Indien (war) vornehmlich Ausdruck wachsender politischer Konkurrenz mit Ländern des Ostblocks“ und insbesondere mit dem zweiten deutschen, von der BRD nicht anerkannten Staats-„Gebilde“, der planwirtschaftlich-sozialistischen Deutschen Demokratischen Republik (DDR). (Tetzlaff 2018, S. 192)
Ökonomische und politisch-ideologische Interessen und Positionen waren – sowohl von den Indern als auch den Bundesdeutschen – nicht immer in Übereinstimmung zu bringen. In Westdeutschland gab es zudem durchaus Meinungsverschiedenheiten über „die angemessene Entwicklungsstrategie für die Dritte Welt (…). Vertreter der ordoliberalen Schule übten heftige Kritik an der (liberalen) Modernisierungstheorie, dem staatlichen Interventionismus und den zentral geplanten Großprojekten.“ (Unger 2008, S. 372)
Insgesamt war das Vorhaben mit einer Vielfalt von auch divergierenden Interessen und fachlichen sowie moralischen Beurteilungsrahmen befrachtet.6 Die Komplexität und Widersprüchlichkeit der Positionen und Absichten – und der sie vertretenden Akteure – lassen die zwangsläufige notwendige Kommunikation zwischen ihnen – ohne hier bereits ins Detail zu gehen – als sehr vielfältig und schwierig erscheinen.
Erleichternde und fördernde Faktoren für das Vorhaben: Gemeinsamkeiten mit bzw. Sympathie für Indien
Andererseits seien „sowohl die indische Gesellschaft als auch ihre Regierung in den 1950er Jahren als moralische Instanz bei der Lösung von Konflikten“ angesehen worden7, was auch so in Deutschland medial vermittelt wurde (Franke 2017, S. 14).8 Daraus erwuchs auch eine gewisse Bewunderung, die den Blick auf die realen Gemengelagen und Dimensionen der Konflikte verstellen und zu einer Unterschätzung von vorhandenen und potenziellen Problemen führen konnte.
Man sah aber eben auch eine Reihe von Gemeinsamkeiten im Schicksal beider Länder, die eine Zusammenarbeit erleichterten:
Der Wunsch nach einer Verbesserung des Lebensstandards als Folge des verheerenden Kriegs stand sowohl in den westlichen Gesellschaften wie der BRD als auch bei den politischen und wirtschaftlichen Eliten in Indien nach dem Ende der Kolonialherrschaft im Vordergrund. Basierend auf einer gemeinsamen Vorstellung von Entwicklung waren dadurch internationale und transnationale gemeinsame Aktivitäten möglich. Eine weitere Basis stellte (…) die gemeinsame Identität als Opfer von Fremdbeherrschung dar.
(Franke 2017, S. 139)
Außerdem galt nach dem Untergangs Deutschlands 1945 die BRD als ein „Land ohne koloniale Vergangenheit“ (Franke 2017, S. 140).
Trotz wirtschaftspolitischer Differenzen erschien (…)
(…) Indien in den 1950er Jahren (als) ein möglicher zukünftiger Partner, dem ebenfalls mit wohlwollender Unterstützung eine Industrialisierung wie in der BRD zugetraut wurde. Das im Auftrag der indischen Regierung von größtenteils westdeutschen Unternehmen realisierte Stahlwerk in Rourkela symbolisierte zudem in den 1950er Jahren die Möglichkeit für das nachkoloniale Indien, allein über geliehene finanzielle Starthilfen eine mögliche nachholende Entwicklung wie in den nördlichen Industrieländern einzuleiten.
(Franke 2017, S. 17f.)
Indien wurde vom „Wunschpartner“ zum „Sorgenkind“ westdeutscher Entwicklungshilfe
In den 1960er-Jahren allerdings – leider wohl auch durch Probleme um das Rourkela-Vorhaben bzw. unglückliche oder negative Berichterstattung darüber mitverursacht – wurde der „Sinn der entwicklungspolitischen Maßnahmen“ zunehmend „in der westdeutschen Öffentlichkeit angezweifelt“. Es entstand der „Topos von ‚der für die westdeutsche Gesellschaft mit Nachteilen behafteten Entwicklungshilfe‘“ (Franke 2017, S. 18).9
Dadurch „änderte sich (…) ab den 1960er Jahren massiv“ das Bild von Indien in Deutschland „und unterlag anderen Beurteilungskriterien“ (Franke 2017, S. 18), was auch mit medialen Veränderungen zusammenhing.10
„‘Die größte Demokratie der Welt‘ wurde zum ‚Sorgenkind der Entwicklungshilfe‘, und bereits Anfang der 1970er Jahre – noch vor der Periode der Notstandsregierung von 1975 bis 1977 – wurde die indische Ministerpräsidentin Indira Gandhi politisch zur ‚persona non grata‘ erklärt.“ (Franke 2017, S. 14)
Indien versank sowohl für die westdeutschen Politiker als auch in der westdeutschen politischen Öffentlichkeit in der als homogen wahrgenommenen Menge an neuen unabhängigen Staaten in Asien und besonders Afrika, die als unterentwickelt und als eine Belastung für die eigene Gesellschaft wahrgenommen wurden. Das Land schien nunmehr politisch eine Region der Gefahren und nicht der Chancen.
(Franke 2017, S. 18)
Anmerkungen
1 „In ordnungspolitischer Tradition sollte der Export deutscher technischer Hilfe und Kapitalgüter die indische Wirtschaftskraft erhöhen und so langfristig einen neuen Markt für deutsche Konsumgüter erschließen. Dieses neue Verständnis von Außenwirtschaftspolitik war gewissermaßen symptomatisch für die Zeit, stand aber auch der späteren Herausbildung einer Entwicklungshilfepolitik nicht entgegen.“ (Tetzlaff 2018, S. 191)
2 Noch Mitte der 1960er-Jahre wurde von einem deutschen Kenner Indiens und Rourkela-Akteur eingeschätzt: „Indien ist im höchsten Maße daran interessiert, immer wieder darzustellen, warum in seinem Falle eine wirtschaftliche Entwicklung nur durch eine, zwar auf demokratischer Basis beruhende, aber eben doch zentrale Planung verwirklicht werden kann. Dabei betont die politische Führung Indiens nachdrücklich die Auffassung, dass sich ihre zentrale Planung von jener der kommunistisch verwalteten Länder wesentlich unterscheidet; denn in Indien würden die notwendigen wirtschaftspolitischen Maßnahmen im vollen Einvernehmen mit der Bevölkerung durchgeführt. Auch wird darauf hingewiesen, dass Indien zwar gerne von den Erfahrungen anderer Länder lerne, dass gleichwohl aber seine Pläne aufgrund der besonderen Erfordernisse keine Kopien anderer, bereits vorhandener Pläne sein könnten und dürften.“ (Stümpel 1966, S. 22) Zu Indiens „Socialist pattern of Society” und daraus hervorgehenden Rivalitäten zwischen staatlichen und privaten Unternehmen siehe auch Stümpel 1966, S. 99-105.
3 Haubold 1967 meinte, dass Rourkela anfangs mit der „Jahreskapazität von 500.000 Tonnen im privaten Sektor errichtet werden sollte“. Die Regierung in Neu Delhi habe sich erst 1955 entschlossen, (mit der Kapazitätserhöhung auf eine Million Tonnen) „Stahlwerke dieser Größenordnung in staatlicher Hand zu belassen“. Vgl. auch Haubold 2020b, 00:23:30.
4 „Zur Durchführung dieser Investitionsaufgaben wurde das bisherige ‚Ministry of Production‘ am 15. Juni 1955 umgestaltet: Es wurde ein neues Ministerium, das ‚Ministry of Iron and Steel‘ gegründet, das nunmehr ausschließlich für die staatlichen Unternehmungen der Eisen- und Stahlproduktion zuständig war, während die private Schwerindustrie im Zuständigkeitsbereich des ‚Ministry of Production‘ verblieb.“ (Stümpel 1966, S. 39)
5 „Ein mit den USA geplanter Bau des vierten Stahlwerks in Bokaro Ende der 1950er Jahre zerplatzte aufgrund des Unwillens weiter Teile der US-amerikanischen Bevölkerung, Steuergelder in ein sozialistisches Land zu investieren. Indien zog sein Angebot zurück, um die Zusammenarbeit mit den USA zu erhalten. Das Stahlwerk wurde schließlich von der Sowjetunion gebaut.“ (Franke 2017, S. 140 Fußnote)
6 „Die BRD, im Bündnissystem der USA, wurde in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer der führenden Industrienationen und beteiligte sich an den internationalen Maßnahmen, die sowohl einen ökonomischen als auch einen ideologischen Hintergrund hatten. Das wirtschaftlich erstarkende Land war auf der Suche nach neuen Handelspartnern und Märkten und sah sich in den 1950er und 1960er Jahren in Südasien mit der DDR als Konkurrenten konfrontiert. Unter den Ländern der sog. Dritten Welt war Indien hinsichtlich des Alleinvertretungsanspruchs der BRD bis zur Anerkennung der DDR 1972 viele Jahre von besonderer Bedeutung.“ (Franke 2017, S. 16f.) Oder: „Kaum ein Unternehmen lässt das Zusammenspiel bzw. die Gegensätze der an der Entwicklungspolitik beteiligten Interessen so sichtbar werden wie das mit westdeutschen Mitteln finanzierte Stahlwerk Rourkela in Indien. Rourkela galt als Aushängeschild der westdeutschen Exportwirtschaft und als Renommierprojekt der vom sogenannten Wirtschaftswunder erfassten Bundesrepublik. Gleichzeitig bot das Stahlwerk der Bundesregierung die Gelegenheit, sich in der internationalen Arena zu profilieren, indem sie die Gewährung von Bundesbürgschaften und Krediten, die Ausbildung indischer Arbeitskräfte und den Bau von Modellsiedlungen als Teil einer philanthropischen Entwicklungshilfe präsentierte. Auf diese Weise wollte sie vor allem ihren Alleinvertretungsanspruch gegenüber der DDR festigen.“ (Unger 2008, S. 369)
7 „Jawaharlal Nehru, der erste Premierminister der seit 1947 unabhängigen Indischen Union, sah sich bei vielen Konflikten als Vermittler und vertrat eine Politik der Blockfreiheit und friedlichen Ko-Existenz. Ihm gelang es, ‚den Nicht- Westen‘ auf Augenhöhe mit dem Westen zu bringen. Sowohl Pakistan als auch Indien wurden besonders aus strategischen Gründen für die beiden rivalisierenden Großmächte USA und UdSSR wichtig. Indisch-pakistanische Konflikte sowie Grenzstreitigkeiten mit dem um die Vorherrschaft im südasiatischen Raum rivalisierenden China sorgten in den 1950er und 1960er Jahren für außenpolitische Spannungen. Indien hatte innenpolitisch mit ethnischen und religiösen Problemen zu kämpfen; trotzdem gelang es den jeweiligen Regierungen, das Land zu stabilisieren und die demokratischen Institutionen zu bewahren.“ (Franke 2017, S. 16)
8 „Die Medien überbrückten (…) die räumliche Distanz. Politiker, Wissenschaftler, Journalisten und Journalistinnen wie Marion Gräfin Dönhoff trugen diese Vorstellung in Form von Essays, Kommentaren, Rezensionen, Hintergrundberichten und Reportagen – unter Einbindung von Karikaturen und Bildern – als mediale Übermittlungsformen in die westdeutsche politische Öffentlichkeit.“ (Franke 2017, S. 14)
9 „Dabei schien der Begriff ‚Entwicklungshilfe‘ zu implizieren, dass es sich um eine Maßnahme handelte, die nur der westdeutschen Gesellschaft Kosten verursachte, von den sog. Nehmerländern dagegen aber kostenlos eingefordert werden konnte.“ (Franke 2017, S. 18)
10 „Dieses Bild änderte sich (…) zusammen mit einem Wandel in der medialen Politikdarstellung und technischen Neuerungen. Die führende Stellung von Presse und Hörfunk schwand ab Mitte der 1960er Jahre und das Fernsehen erweiterte das Mediensystem als Vermittler von Wissen und Wirklichkeit.“ (Franke 2017, S. 14)