Der „menschliche Faktor“ und seine kommunikativen Fallstricke
Rourkela als größte westdeutsche Ansiedlung in Asien
Die ersten deutschen „Ingenieure und Monteure in größerer Zahl auf der Baustelle“ – ca. 400 – trafen 1957 ein. Anfangs waren die Wohn- und Lebensverhältnisse im so genannten „Fitters‘ Hostel“ (fitter, engl. = Monteur) – noch dazu unter den ungewohnten klimatischen Bedingungen – alles andere als ideal. Allerdings konnte die „Situation allmählich verbessert werden“. Es war vorauszusehen, „dass während der Montagespitzen etwa 1.700 Ingenieure und Monteure sowie Ehefrauen und Kinder in der zu errichtenden Wohnstadt leben würden“. (Stümpel 1966, S. 85)1
Doch die Präsenz westdeutscher Techniker vor Ort und ggf. ihrer Familienangehörigen sollte schließlich noch länger dauern als zunächst geplant.
Die anfängliche Überzeugung der Inder, sie könnten die Produktion des Werkes aufgrund der während der Herstellung und Montage gesammelten Erfahrungen selbstständig betreiben“, musste nämlich „revidiert werden. Aus dieser Erkenntnis ergab sich sehr bald der indische Wunsch nach einer deutschen Bedienungsmannschaft.
(Stümpel 1966, S. 77)
„Dieser Wunsch wurde von allen beteiligten deutschen Stellen mit Nachdruck unterstützt.“ (S. 78) Zunächst waren noch genügend Fachleute aus der Bundesrepublik vor Ort. Was aber, „wenn die Combine und die Vertragsfirmen nach Erfüllung ihrer vertraglichen Verpflichtungen ihre Fachkräfte schrittweise aus dem Hüttenwerk zurückzogen“? (S. 78)
Die „Klärung dieser Frage“ war für beide Seiten „von eminenter Bedeutung“. Für die deutschen Unternehmen (…)
(…) allein schon deshalb, weil das Firmenprestige auch nach der Abwicklung des Auftrages sowie dem Ausscheiden aus der Verantwortung mit der Funktionsfähigkeit der errichteten Anlage verknüpft blieb. Darüber hinaus stand und fiel, was mittlerweile erkannt worden war, das Renommee der gesamten westdeutschen Großindustrie mit der Leistungsfähigkeit des Hüttenwerkes Rourkela – und zwar nicht nur im Hinblick auf Indien, sondern auf den gesamten Entwicklungsraum.
(Stümpel 1966, S. 78)
Hinzu kam die internationale Ost-West-Auseinandersetzung, die sich auch und gerade auf Indien auswirkte. So „waren Gerüchte laut geworden, nach denen russische Techniker zur Übernahme. von Schlüsselpositionen in dem von Westdeutschland erstellten Werk zur Verfügung stehen sollten.“ (S. 78)
„Unter großen Schwierigkeiten konnte schließlich für die wichtigsten Positionen ein deutsches Techniker-Team bereitgestellt werden.“ (Stümpel 1966, S. 78. Vgl. auch Unger 2008, S. 377) Westdeutsche Ingenieure und Techniker sollten außerdem mehr Aus- und Weiterbildungsaktivitäten für Inder unternehmen.
Betreuung der Deutschen: Sozialverein als einzige Gemeinschaftsinstitution
Die umfangreichen sozialen und medizinischen Betreuungsaufgaben brachten die beteiligten westdeutschen Unternehmen zur Einsicht, dass diese nur gemeinsam zu stemmen waren. „Nach Abstimmung mit dem indischen Auftraggeber gründeten diese Firmen im Jahre 1957 den Verein ‚Sozialbetreuung Rourkela e.V.‘ mit Sitz in Essen.“ Nach Fertigstellung der entsprechenden Einrichtungen wurde diese von „dem zu diesem Zweck in Indien gegründeten ‚German Social Centre Rourkela (GSC)‘“ betrieben. (Stümpel 1966, S. 85)
Der Sozialverein war ein „funktionsfähiges Instrument“. Mit seiner Sozial- und Kulturarbeit betrieb er zugleich eine Art interner PR in der deutschen Siedlung, die über ihre Wahrnehmung von außen auch das Image der Westdeutschen und des Rourkela-Projektes beeinflussen musste.
Weit bemerkenswerter hieran aber ist, dass dieser Verein das einzige kooperative Instrument geblieben ist, zu dem sich die beteiligten deutschen Firmen selbst angesichts der weitaus schwierigeren und gemeinsam besser zu lösenden Aufgaben vor allem in den vertraglichen und technischen Bereichen entschließen konnten.
(Stümpel 1966, S. 85)
Probleme unter bzw. mit den Deutschen in Indien
Bei der Vorbereitung ihrer Monteure auf den Indien-Einsatz konzentrierten sich die deutschen Unternehmen auf technisch-fachliche und gesundheitliche Aspekte. „Auf die vielschichtigen Probleme, die ihn im Gastland und speziell auf der Baustelle selbst erwarteten, war er jedoch kaum oder überhaupt nicht vorbereitet worden.“ (Stümpel 1966, S. 150)2
Mehrere Autoren berichten über den so genannten „Kalkutta-Effekt“, der bei einigen Monteuren zur Rückreise am nächsten Tag nach Deutschland oder zu einer dauerhaften Prägung des gesamten Indien-Aufenthaltes führte.3 Auch die Zeit in Rourkela war nicht einfach.4
Das Zusammenleben der deutschen Fachkräfte bzw. Familien mit indischem „Dienstpersonal, das üblicherweise in einem Rourkela-deutschen Haushalt beschäftigte wurde“5, bzw. alleinstehender deutscher Monteure mit „Ayahs“ (Hausmädchen) (Sperling 1965, S. 134ff. und 140ff.) führte zu mancherlei tatsächlichen oder vermeintlichen Problemen sowie kulturellen Missverständnissen und echten Spannungen. Dies schlug in der indischen Bevölkerung „teilweise in latente, teils in aggressive Feindschaft gegen ‚die Deutschen‘ um(…)“ (S. 142), resultierte aber auch bei deutschen Monteuren in Protest und Handgreiflichkeiten (S. 146ff.)
Unterschätzung medialer Mechanismen bei der Darstellung tatsächlicher oder vermeintlicher Verhaltensweisen westdeutscher Menschen in Indien
„Immerhin reichten die Vorfälle insgesamt aus, die indische Öffentlichkeit weit über den örtlichen Bereich hinaus gegen ‚die Deutschen‘ in Rourkela einzunehmen und insbesondere einen Teil der indischen Presse zu veranlassen, die Geschehnisse aufzugreifen und, genüsslich breitgewalzt und übertrieben, einer weiten Öffentlichkeit darzubieten.“ (Sperling 1965, S. 149)6 „Im Parlament von Delhi kam es zu ‚großen Anfragen‘. Von ‚einer Beunruhigung der indischen Öffentlichkeit‘, berichtete der deutsche Botschafter Duckwitz nach Bonn“ (Haubold 2020a, S. 6)
„Derartige Artikel wurden von einem Teil der deutschen Presse – vielfach kritiklos – übernommen (…)“ (Sperling 1965, S. 151).7 Danach gerieten sie – weil eine proaktive und reagierend-korrigierende PR fehlte – wie in einem „Kreislauf“ wiederum unter die Augen indischer Medien.
Hier rächte sich, dass man in Rourkela (…) gezielten Verunglimpfungen nicht von Anfang an energisch entgegengetreten war. So blieben die in der indischen Presse erhobenen Vorwürfe lange Zeit unwidersprochen im Umlauf. Als sie endlich in Vergessenheit geraten waren, wurden sie von einem Teil der deutschen Presse neu entdeckt und mit größtem Erfolg, auch für die indische Öffentlichkeit, wieder neu aufgelegt.
(Sperling 1965, S. 214)
Aber sie gelangten auch „auf dem Umweg über Freunde und Angehörige in der Bundesrepublik zu den Rourkela-Deutschen, wo sie Verbitterung gegen die ‚undankbaren‘ Inder und Empörung über die Heimat auslösten“ (Sperling 1965, S. 151f.).
Dennoch konnten schließlich Verbesserungen erzielt werden. In den 1960er-Jahren kam es zu „vermehrte(r) Durchführung intensiver Vorbereitungsseminare durch deutsche staatliche und teilstaatliche Institutionen, in denen Auslandsmitarbeiter deutscher Unternehmen auf ihren Einsatz in Indien geschult wurden“. Ein Referent sensibilisierte auch für die „Politisierung Rourkelas“ und „wies Kurs-Teilnehmer an, Presseleute bei Rourkela-Fragen an das zuständige Büro zu verweisen“. (Tetzlaff 2018, S. 207)
Die Stimmung in Rourkela, auf der Baustelle und im Camp, „war immens wichtig für unsere PR-Arbeit“, stellte Haubold (2020a, S. 3f.) – der von 1966 bis 1971 das Pressebüro der deutschen Industrie leitete – fest. „Manifestationen von Rassismus im Deutschen Club hätten sofort ihren Weg in die indische Öffentlichkeit gefunden.“ Haubold aus seiner späten und positiveren Erfahrung heraus wählte den Konjunktiv, mindestens für die Zeit bis 1960/61 wäre aber der Indikativ angebracht.
„Spezialisten der Sowjetunion und der DDR beobachteten genau. Es herrschte Kalter Krieg, und der wurde mit einer Vehemenz geführt, die uns heute absurd erscheint“ (Haubold 2020a, S. 4) – auch das ist eine richtige Feststellung. Die aber nicht in den Hintergrund treten lassen darf, dass die Probleme nicht nur Propagandaerfindungen, sondern auch hausgemacht waren:
Wenige waren bereit, einzuräumen, dass solche Presseberichte nicht völlig aus der Luft gegriffen waren und die Rourkela-Deutschen zu einer derartigen Einschätzung selbst Anlass gegeben hatten. Die unschuldig Betroffenen stimmten in die allgemeine Empörung ein, ohne den Versuch zu machen, auf die schuldig Betroffenen einen mäßigenden Einfluss zu nehmen.
(Sperling 1965, S. 151f.)
Ein Zeitdokument: Veranstaltungsplan des deutschen Klubs in Rourkela
Anmerkungen
1 „Während der Montagespitze war die in Rourkela lebende deutsche Kolonie die größte im ganzen asiatischen Raum. Dementsprechend wurde das GSC (German Social Centre Rourkela – T.L.) in Rourkela mit einem komplett und modernst eingerichteten 40-Betten-Hospital mit Internisten, Chirurg, Zahnarzt und Oberschwester, einem Klubhaus mit Kantine, Freilichtkino und Schwimmbad, einer Sportanlage, einer Schule sowie anderen kulturellen, medizinischen und sozialen Einrichtungen ausgerüstet.“ (Stümpel 1966, S. 85)
2 „Zwar hatten einige Institutionen entsprechende Lehrgänge eingerichtet. Doch mussten sie vielfach ausfallen, da die infrage kommenden Baufirmen eine Teilnahme ihrer ausreisenden Mitarbeiter nicht für notwendig hielten.“ (Stümpel 1966, S. 150)
3 „Mit dem Verlassen der modernen Verkehrsmaschine in Indien betrat der Ankömmling nicht ein Märchenland, wie es ihm aufgrund deutscher Filme oder Zeitungsartikel klischeehaft vorgeschwebt hatte, sondern ein Land mit einem namenlosen Elend. Je unvorbereiteter er war, umso mehr erdrückten ihn schon die ersten Erlebnisse (…).“ (Stümpel 1966, S. 151) Vgl. auch Haubold 2020a, S. 3.
4 „Nachdem der Monteur auf der Baustelle einen langen und (S. 150) anstrengenden Arbeitstag bei ungewohnten Temperaturen hinter sich gebracht hatte, konnte kaum von ihm erwartet werden, auf die abendliche Biertischrunde zu verzichten und sich stattdessen über indische Geschichte oder indische Lebensgewohnheiten belehren zu lassen. (…) Da überdies ein entsprechendes Interesse vielfach völlig fehlte, blieb die indische Umwelt mit all ihren Erscheinungsformen für den Monteur während der gesamten Dauer seines Indien-Aufenthaltes weitgehend fremd und unverständlich.“ (Stümpel 1966, S. 151)
5 In Indien sei es „üblich, je nach Haushaltsgröße einen oder mehrere Dienstboten zu beschäftigen. Das gilt auch für die Rourkela-Deutschen. Die Sowjetrussen in Bhilai verzichteten – vermutlich auf höheren Befehl – weitgehend darauf, indisches Hauspersonal zu beschäftigen oder sich von Rikshaw-Kulis fahren zu lassen. In der Öffentlichkeit haben sie das, speziell mit Blickrichtung auf ‚die Deutschen in Rourkela‘, als besonderes Zeichen der gleichberechtigten Verbundenheit von Indern und Russen herausgestellt. Während die internationale Presse diese Darstellung meist kritiklos übernahm, bemerkte ein Berichterstatter, der die indischen Verhältnisse kannte und den Dingen etwas weiter nachging, dass es sich hier um eine Propaganda der Sowjetrussen handelte, die nur außerhalb Bhilais ‚ankam‘. Die davon betroffenen Inder, nämlich Hauspersonal und Rikshaw-Kulis in Bhilai, die sich von den vielen Ausländern – wie überall in Indien – gut bezahlte Beschäftigung erhofft hatten, waren den Russen für diese Haltung keineswegs dankbar, sondern murrten ganz gehörig über deren Knausrigkeit.“ (Sperling 1965, S. 133)
6 „Derartige Artikel berichten etwa in folgender Weise: ‚Dem Besucher mit offenen Augen erscheint es [Rourkela] als ein großes Gemeinschaftsprojekt für die schamloseste Prostitution in der Welt. Man sieht christliche Adivasi-Mädchen aus deutschen Autos aussteigen, gekleidet in Seide und Georgette, geschminkt und mit hochhackigen Schuhen … Wenn man die Anzahl der Fotografien sieht, die jeden Tag (bei einem örtlichen, indischen Fotographen) entwickelt werden, so möchte man annehmen, dass die, meisten dieser Frauen zum Fluss mitgenommen und dort entkleidet und fotographiert werden. Die Post in Rourkela ist damit beschäftigt, diese Fotos in verschiedene Teile Deutschlands zu schicken. Es ist in der Tat gesagt worden, obgleich wir keine authentischen Beweise für diese Annahme haben, dass mindestens zwei deutsche Firmenbaustellen regelmäßig diese Fotographien nach Deutschland schicken, um die deutschen Arbeiter zu überreden, Verträge für Indien abzuschließen.‘ (Auszug aus: Plant for producing Bastards. In: Film India, Juni 1958; Anmerkung von Sperling:) Im Gegensatz zu Rourkela scheint es derartige bzw. ähnliche Praktiken in Südrhodesien tatsächlich geben zu haben, vergl. Constantine, Learie, Colour Bar, S. 55 (Anmerkung Ende) (…)
Unter dem 9. August 1958 wurde in der Wochenzeitung Blitz (Anm.: Steht der kommunistischen Partei Indiens nahe) ein Leserbrief dreier namentlich genannter Inder aus Rourkela veröffentlicht, in dem es heißt: ‚Das Höllenloch Rourkelas sind die Gebäude der Fitters‘ Hostels, in denen nahezu sechshundert deutsche Monteure untergebracht sind. Abends verwandeln sich diese Gebäude in ein gesetzloses Land: man sieht betrunkene Frauen von Zimmer zu Zimmer gehen, ohne sich im geringsten um die vorbeigehenden Passanten zu kümmern … Die betreffenden Frauen sind nicht nur Adivasis und Christinnen, sondern auch Putzfrauen (sweeper-maids) und Protituierte aus Calcutta …‘“ Usw. usf. (Zitiert nach Sperling 1965, S. 150f. Vgl. dazu auch Haubold 2020a, S. 3ff.)
7 Dazu auch an anderer Stelle: Es „wurden Berichte über angebliche menschliche- Entgleisungen des deutschen Montage-Personals, die bereits früher in der indischen Presse erschienen waren, ungeprüft übernommen.“ (Sperling 1965, S. 214)