PR als strategische Kommunikation (= dritter Entwicklungsstrang): Propaganda als neue Qualität
Entwicklung des Propaganda-Begriffes
Schon vor dem Ersten Weltkrieg war der Propaganda-Begriff weit verbreitet und als Bezeichnung für Kommunikation in Politik und (!) Wirtschaft gebräuchlich. 1911 beispielsweise erschien Siegfried Herzogs Handbuch „für das gesamte Propaganda- und Reklamewesen“ unter dem Haupttitel „Industrielle und kaufmännische Propaganda“. Insofern kann – auf allgemeiner Ebene, im normalen Sprachgebrauch – von Synonymie zwischen Reklame/Werbung und Propaganda sowie ihrer Verwendung auf allen Kommunikationsfeldern ausgegangen werden.
Allerdings war am eingangs erwähnten Beispiel der „Propaganda-Organisation eines beleuchtungstechnischen Großbetriebs“ (Müller 1919) auch eine begriffliche Differenzierung zwischen einerseits „Werbung“ bzw. genauer gesagt „Werbe(-Abteilung)“ und andererseits „Propaganda(-Abteilung)“ erkennbar geworden. Insoweit bezeichnete Propaganda etwas, was heute unter Öffentlichkeitsarbeit bzw. Public Relations firmiert.
Erster Weltkrieg erhöhte Aufmerksamkeit für Propaganda
Vor allem sind für eine tiefergehende Interpretation des Propaganda-Begriffes in der Weimarer Zeit die kommunikationsfachlichen Folgen des Ersten Weltkriegs und insbesondere der deutschen Niederlage zu berücksichtigen. Entstehung und Aufschwung von Kommunikations- und Medienwissenschaft(en) im und nach dem Ersten Weltkrieg (Zeitungswissenschaft, Werbewissenschaft, Propagandalehre etc.) haben durch den tatsächlichen oder vermeintlichen Einfluss der Weltkriegs-Propaganda auf das gesamte gesellschaftliche und individuelle Leben einen wesentlichen Impuls oder Schub erfahren.1
Viele politischen und wirtschaftlichen Akteure (wie der Kaufmann Ludwig Roselius, 1874-1943) sowie Intellektuellen (wie der Soziologe Johann Plenge, 1874-1963) „sahen die Ursache der deutschen Niederlage in der Überlegenheit der gegnerischen Propaganda“ (Kunczik 1997, S. 222). Dieser Argumentationskomplex zur „Rationalisierung der Niederlage“ stellte eine Variante der politisch-militärischen „Dolchstoßlegende“ dar (S. 164).
Aber auch ohne solche ideologische Instrumentalisierung galt: Im Zusammenhang mit der Verarbeitung von Erfahrungen des Ersten Weltkriegs stiegen Interesse und Wertschätzung für Kommunikation, Medien und Propaganda sowie die Notwendigkeit ihrer planmäßigen, organisierten Gestaltung deutlich an. Dies wirkte sich nun – auch befördert durch den Fluss ehemaliger Kriegs-Kommunikatoren in das Zivilleben – auf alle Kommunikationspraxen aus.
Plenges Propagandalehre: Strategische Kommunikation von Wettbewerbs-Akteuren
Plenge entwickelte Anfang der 1920er-Jahre am Staatswissenschaftlichen Institut an der Universität Münster die elaborierteste Auffassung über Propaganda und beleuchtete dabei verschiedenste Typen, Mittel und Anwendungsfelder.2 Später reklamierte Plenge für sich, der Urheber – und nicht Hitler in Mein Kampf – der Propagandalehre sowie der erste Nationalsozialist und Hakenkreuz-Verwender gewesen zu sein.3
Allerdings gründete Plenge seine Auffassungen über Propaganda Anfang der 1920er-Jahre nicht, wie oft fehlinterpretiert wird, auf eine totalitäre Gesellschaftskonzeption. Er ging vielmehr durchaus von einer pluralistischen Wettbewerbsgesellschaft aus: In der Gesellschaft habe jeder Einzelne das Recht zur Propaganda, …
(…) weil er selbstständig ist und auf sich steht. Es kann nicht anders sein. Die Propaganda wird sozusagen der geistige Kampf aller gegen alle um Geltung. So leuchten die Schaufenster (…) gegeneinander. So wetteifern die Anzeigen in der Zeitung.“ Daraus entstehe ein „Kräftesystem“, „bei dem von den verschiedenen Seiten her die Antriebe gegeneinander dringen und untereinander ringen.
(Plenge 1922, S. 42 und 37)