Konzeptioneller Kontext des Buches „Moderne Meinungspflege“

Kontexte des Buches Moderne Meinungspflege

Konzeptioneller Kontext: Interessensidentität – soziales Faktum oder ideologisches Fiktum?

In der Öffentlichkeit ein „Bewusstsein einer allgemeinen Interessenidentität mit der Marktwirtschaft (zu) erzeugen“, war laut Gross (1952, S. 22) das zentrale Ziel unternehmerischer Meinungspflege. Es liegt auf der Hand, dass solcherlei Funktionsbestimmung von PR sowohl im damaligen sozial und politisch noch sehr heterogenen Westdeutschland als auch im ideologisch gegengepolten Ostdeutschland auf Widerspruch stoßen musste. Wir wollen uns im Folgenden nur auf die im engeren Sinne innenpolitische, also westdeutsche Situation beziehen.

„Die“ Marktwirtschaft sowieso und auch die „soziale“ Marktwirtschaft erschienen seinerzeit durchaus nicht alternativlos. Die SPD (Sozialdemokratische Partei Deutschlands) verabschiedete sich erst 1959 auf dem Godesberger Parteitag „von ihrem marxistischen Erbe“.1 Bevor sie 1956 verboten wurde, war die KPD (Kommunistische Partei Deutschlands) immerhin bis 1953 im ersten Deutschen Bundestag sowie in fast allen Landtagen vertreten.2 Sogar das von der CDU (Christlich Demokratische Union Deutschlands) der britischen Zone 1947 verabschiedete „Ahlener Programm“ verkündete – angelehnt an die katholische Soziallehre – de facto sozialistische („gemeinwirtschaftliche“) Ziele:3

Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden. Nach dem furchtbaren politischen, wirtschaftlichen und sozialen Zusammenbruch als Folge einer verbrecherischen Machtpolitik kann nur eine Neuordnung von Grund aus erfolgen. Inhalt und Ziel dieser sozialen und wirtschaftlichen Neuordnung kann nicht mehr das kapitalistische Gewinn- und Machtstreben, sondern nur das Wohlergehen unseres Volkes sein. Durch eine gemeinwirtschaftliche Ordnung soll das deutsche Volk eine Wirtschafts- und Sozialverfassung erhalten, die dem Recht und der Würde des Menschen entspricht, dem geistigen und materiellen Aufbau unseres Volkes dient und den inneren und äußeren Frieden sichert.

(Ahlener Programm 1947)

Diese komplizierte Gemengelage kann hier nicht angemessen differenziert genug dargestellt werden. Fakt ist aber, dass zeitgenössische Rezensenten Gross hinterfragten und ihm auch widersprachen, ihm also einen ideologischen, interessenbestimmten Charakter unterstellten:

Aber schließlich ist doch nicht zu übersehen, dass in Deutschland – anders als in den USA – neben den Ordnungsvorstellungen der freien Marktwirtschaft ein von ebenso starken Kreisen gestütztes gegenteiliges Wirtschaftsordnungsbild der sozialistischen Wirtschaftsordnung oder der geplanten Vollbeschäftigung vorhanden ist, hinter dem starke und echte Interessen stehen. Die Rechtfertigung des Privateigentums an Produktionsmitteln oder der ‚freien‘ Investierungspolitik auf Kosten der Käufer und Steuerzahler in einer Gesellschaft (…), in der also derart tiefgehende Interessengegensätze vorhanden sind, ist kaum über den Weg einer einfach zu propagierenden Interessensolidarität zu suchen. Die Interessensolidarität muss erst einmal vorhanden, und das heißt bei uns: sie muss erst einmal geschaffen werden, ehe man sie in einer ‚modernen Meinungspflege‘ sichern kann.

(Schelsky4 1952, S. 165)

Die Geschichte gab Gross mit der weitgehenden Durchsetzung der „sozialen Marktwirtschaft“ als akzeptiertes und erfolgreiches Gesellschafts- und Wirtschaftsmodell in der Bundesrepublik Recht. Allerdings ist damit nicht automatisch die Legitimität und Richtigkeit der dafür eingesetzten Konzepte, Mittel und Praktiken bewiesen.

Autor(en): T.L.

Anmerkungen

1 http://www.bpb.de/politik/grundfragen/parteien-in-deutschland/42082/geschichte?p=all

2 http://www.bpb.de/nachschlagen/lexika/politiklexikon/17728/kommunistische-partei-deutschlands-kpd und http://de.wikipedia.org/wiki/Kommunistische_Partei_Deutschlands#1945.E2.80.931956:_Reorganisierung.2C_KPD_im_Westen.2C_SED_im_Osten

3 http://www.hdg.de/lemo/html/Nachkriegsjahre/PolitischerNeubeginn/cdu.html

4 Helmut Schelsky gilt als der „erfolg- und einflussreichste Soziologe der frühen Bundesrepublik“. „Schelsky – mal als neokonservativ, mal als progressiv bezeichnet – wurde mit seinen Veröffentlichungen zu aktuellen Problemen der Bundesrepublik zum ‚Stichwortgeber des Zeitgeistes‘ (Ludolf Hermann).“ http://www.uni-bielefeld.de/Universitaet/Einrichtungen/Weitere%20Einrichtungen/Universitaetsarchiv/images/Kapitel-3_UABI_Schelsky.pdf