Akteure und Verträge: Der lose organisierte westdeutsche Firmen-Verbund

Krupp und Demag als wichtigste deutsche Firmen-Akteure

Abb.: Artikel zur Vertragsunterzeichnung 1953 aus: Foreign Commerce Weekly. Washington: U.S. Department of Commerce. Vol. 51 (1954) No. 1, 4. Januar 1954.

Nachdem erste indische Vorstöße zur Kooperation mit den USA, Großbritannien und Japan gescheitert waren, wurde „im Januar 1953 dem damaligen indischen Staatssekretär Chanda deutscherseits der Bau eines Hüttenwerks durch deutsche Firmen vorgeschlagen“ (Stümpel 1966, S. 41. Vgl. auch Unger 2008, S. 371). In den ersten indisch-deutschen Kontaktgesprächen war schnell klar geworden, „dass die deutsche Interessengruppe über die vorgesehene Kapitalbeteiligung und Beratertätigkeit“ hinaus „stark an der gesamten Auftragsvergabe beteiligt sein würde“ (Stümpel 1966, S. 118).

„Im Jahre 1953 wurde zwischen der indischen Regierung und den Firmen Fried. Krupp und Demag AG1 ein Vertrag über die Errichtung eines integrierten Eisen- und Stahlwerkes (…) abgeschlossen.“ (Stümpel 1966, S. 37)2

Der Standort für das neue Werk wurde nach längeren Verhandlungen in die Nähe des alten Dorfes Rourkela (Orissa3) gelegt. Er liegt damit etwa 410 km westlich von Calcutta.4 Entsprechend dem Produktionsziel ist die Anlage Rourkela ausschließlich auf Flachstahl ausgelegt und im Hinblick auf spätere Erweiterungen so geplant worden, dass weitere Produktionseinheiten ohne besondere Schwierigkeiten in den Gesamtkomplex einbezogen werden können.

(Stümpel 1966, S. 38. Vgl. auch S. 41-44)

Unternehmensrechtlich gesehen war der indische Partner der Deutschen die „(e)ntsprechend dem Bonner Memorandum vom 15.8.1953“ gegründete indische Gesellschaft „Hindustan Steel (anfänglich – T.L.: Private) Limited“ (HSPL bzw. HSL) mit Sitz im Staate Delhi (Stümpel 1966, S. 43).

Ab dem 16. März 1954 existierte eine „Indien-Gemeinschaft Krupp-Demag GmbH“ in Duisburg (vgl. Stümpel 1966, S. 43 und Lebenslauf), in vielen Texten auch als „Combine“ bezeichnet (S. 65). Die deutsche Firmengemeinschaft war (…)

(…) auf der einen Seite mit einem Höchstbetrag von 95 Mill. Rs. an dem zu errichtenden Hüttenwerk beteiligt. Sie sollte hierüber Aktien erhalten im Verhältnis 1:4 zum indischen Partner. Auf der anderen Seite fungierte die deutsche Firmengemeinschaft für die indische Regierung hinsichtlich der Planung und Plandurchführung auch als technischer Berater. Aufgrund der globalen Tenderung konnte sie sich auch an der Angebotsabgabe beteiligen (jetzt allerdings jede Firma für sich) und bei einem eventuellen Zuschlag als Lieferer gegenüber der indischen Regierung auftreten.

(Stümpel 1966, S. 44)

Die Beteiligung an der Ausschreibung war auch von Erfolg gekrönt.

Mehrere Tausend Firmen im Projekt-Umfeld

Abb.: Firmenlogo des namhaftesten Akteurs: Krupp. Quelle: User:Stahlkocher took the picture himself, as he wrote; it is originated from the front mask of an old Krupp two stroke truck, built earlier than 1965. — BerndB 18:27, 20 November 2006. Wikimedia Commons / Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/dee d.en) license

Bevor nachher deutliche Kritik an mangelnder Koordination bzw. Zentralisation zwischen den deutschen Akteuren zitiert werden muss, sei auf die zahlenmäßige Dimension der beteiligten Unternehmen hingewiesen. Zweifellos war dieses Gemeinschaftswerk nicht ohne ein Mindestmaß an verwaltungsmäßig und technisch-fachlich bedingter Kommunikation möglich:

Mindestens 3.000 westdeutsche Firmen beteiligten sich als Zulieferer an der Konstruktion des Hochofens sowie am Bau einer angegliederten Modellsiedlung für 100.000 Werksangehörige und ihre Familien.

(Unger 2008, S. 373)5

.

Neben den Stahl-Konzernen Krupp und Demag zählten Unternehmen wie Gutehoffnungshütte, Siemens-Schuckertwerke und AEG zu den beteiligten Unternehmen. (…) Mehr als 32 westdeutsche Unternehmen“ waren allein „mit der Lieferung maschineller Anlagen für das Hüttenwerk betraut

(Tetzlaff 2018, S. 203).6

Abb.: Zwölf Jahre nach Gründung der Indien-Gemeinschaft Krupp-Demag GmbH wurde E.F.K. Haubold „Press Officer“ für die „German Industry“ in Neu Delhi. Zu seiner publizistischen Tätigkeit gehörten auch gelegentliche Rückblicke auf die Anfänge des Rourkela-Projekts, hier in The Economic Times vom 28.4.1966.

Für das Gros der konkreten, die technische und organisatorische Ausführung betreffenden Verträge wurde „der 1. Oktober 1956 als Stichtag festgesetzt, obwohl sich deren endgültiger Abschluss wegen der Überprüfung und schließlichen Festlegung der einzelnen Angebote teilweise noch bis in den Dezember 1956 hineinzog“ (Stümpel 1966, S. 66).

Die Bedeutung des Bauvorhabens in Rourkela ging über die unmittelbar beteiligten Firmen hinaus. Das Stahlwerk war nicht nur für die Zuliefererindustrie, sondern „für eine ganze Reihe benachbarter Branchen reizvoll, vor allem für die Chemieindustrie. Denn aus den bei der Stahlerzeugung entstehenden Schlacken ließ sich u. a. Stickstoff gewinnen, der für die Produktion von Kunstdünger genutzt werden konnte.“ (Unger 2008, S. 375)7

Zersplittertes Vertragswerk und mangelnde organisatorisch-institutionelle Zentralisierung

Das indisch-deutsche Vertragswerk war insgesamt sehr vielfältig und zersplittert. Die sowjetischen und englischen „Konkurrenzprojekte“ in Bhilai und Durgapur wurden deutlich einheitlicher gestaltet und geführt.8 Westdeutsche Versuche, dies teilweise nachträglich zu korrigieren, gab es durchaus. So forderte das Rourkela-Konsortium 1958, „einen Generalbevollmächtigten des indischen Transportministeriums in Kalkutta einzusetzen und einen Mitarbeiter des Stahlministeriums nach Rourkela abzustellen, der die Arbeit der HSL koordinieren sollte“ (Unger 2008, S. 374).

Ebenso wurden Versuche unternommen, die Einflussmöglichkeiten der deutschen Seite zu erhöhen.

Das Vorhaben, ein eigenes westdeutsches Baubüro zu etablieren, scheiterte am indischen Widerstand, denn Indien – wie viele dekolonisierte Länder mit ihm – wurde nicht müde zu betonen, dass es gar nicht auf ausländische Hilfe angewiesen sei, sondern selbst alle für die Industrialisierung nötigen Kenntnisse und Fähigkeiten besitze.9 (…) Immerhin gelang es, das Baubüro der HSL durch zehn westdeutsche Fachkräfte zu erweitern, und das indische Unternehmen und die Kreditanstalt für Wiederaufbau einigten sich auf halbjährliche Konsultationen unter Beteiligung des BMWi.

(Unger 2008, S. 374)

Für die indische Seite ergaben sich aus der dezentralen und zugleich weniger rigiden Vorgehensweise der Westdeutschen einige Vorteile. So konnte sie durch „das Prinzip des ‚Learning by doing‘ aufgrund der indischen Mitarbeit während der Montage“ von diesen Erfahrungen profitieren (Stümpel 1966, S. 121).

Schließlich bestand ein weiterer Vorteil der Rourkela-Verträge für die indische Seite darin, dass die beteiligten deutschen Firmen häufig gegeneinander ausgespielt und demzufolge zu manchen Zugeständnissen über den Rahmen ihrer vertraglich verankerten Verpflichtungen hinaus veranlasst werden konnten.

(Stümpel 1966, S. 121)

Die deutschen Wirtschaftsakteure versäumten es, „aus der bestehenden Situation die entsprechende Konsequenz zu ziehen und die Vertragsvielfalt durch eine zusammengefasste Führung etwa in der Form eines Konsortiums soweit wie möglich zu kompensieren“ (S. 121).

Das Fehlen einer solchen Führungsgruppe hatte auch Auswirkungen auf das Kräfteverhältnis zwischen den indisch-deutschen Akteuren und ihren Möglichkeiten für strategische Kommunikation. Der Takt der Fertigstellung und die Ereigniskette wurden letztlich von der indischen Werksleitung bestimmt.

 

 

Autor(en): T.L.

Anmerkungen

1 Anfangs war auch noch die Gutehoffnungshütte (GHH) als verantwortlicher Partner dabei, die sich aber „aus nicht weiter bekannten Gründen kurz vor Vertragsabschluss aus dem Geschäft zurück(zog)“ (Unger 2008, S. 371).

2 „Die Jahreskapazität dieser Anlage war auf 500.000 t ausgelegt, wurde jedoch dann aufgrund der Planziele des 2. Fünfjahresplanes auf 1 Mill. t erhöht, und zwar aufgrund eines Zusatzabkommens, das am 21. Juli 1955 abgeschlossen wurde.“ (Stümpel 1966, S. 37)

3 Der Name des indischen Bundesstaates lautet seit 2011: Odisha. Vgl. Haubold 2020a, S. 2.

4 Die Schreibweise der in Westbengalen gelegenen und siebtgrößten Stadt Indiens (offiziell Kolkata) schwankt in der Literatur zwischen Calcutta, Kalkutta u.Ä. Als Metropolregion betrachtet (also einschließlich Umland) befindet sich Kalkutta nach Mumbai und Delhi auf Platz drei der bevölkerungsreichsten Städte des Landes.

5 „Um Platz für die benötigten Anlagen und Siedlungen zu schaffen, wurden mehr als 30 Dörfer eingeebnet und ihre 13.000 Bewohner zwangsweise umgesiedelt. Im Zuge der Erweiterung Rourkelas mussten in den folgenden Jahren noch einmal mehr als 30.000 Menschen ihre Dörfer verlassen. Hatte der Ort Anfang der Dreißigerjahre kaum mehr als 400 Einwohner gehabt, entstand mit dem Stahlwerk und den angegliederten Industrien innerhalb von drei Jahrzehnten eine Millionenstadt; 1991 hatte die Einwohnerzahl fast vier Mio. erreicht.“ (Unger 2008, S. 373)

6 Bei Haubold 2020a (S. 5) heißt es: „35 Lieferfirmen schlugen sich mit mehr als 4.000 Unterlieferanten herum (…)“.

7 „Dazu waren wiederum ausländische Investitionen nötig. Entsprechend bemühte sich die Friedrich Uhde GmbH (Dortmund) 1958, den Zuschlag für den Auftrag sowie eine Fabrikationsrisiko- und Ausfuhrbürgschaft von der Bundesrepublik zu erhalten.“ Nach einigen Schwierigkeiten und trotz „scharfe(r) Konkurrenz“ aus dem Ausland erhielt die Firma Uhde den Auftrag von den Indern. (Unger 2008, S. 376)

8 Vgl. dazu Stümpel 1966, S. 118-124.

9 „So hieß es in einem indischen Zeitungsartikel aus dem Jahr 1958: ‚The main trouble at Rourkela appears to be that Krupps- Demag [sic], the German steel octopus, were made both consultants and suppliers of equipment, ignoring Indian talents in the field of consultation.’” (Unger 2008, S. 374, unter Zitierung von: German Herrenvolk Refuse to Work With Indian Men. In: Blitz. Bombay. 26.7.1958)