Zwischen Medizin, Politik und Literatur
Kindheit im Zeichen von Aufklärung und Revolution
Karl August Ludwig Philipp Varnhagen von Ense wurde am 21. Februar 1785 in Düsseldorf als Sohn eines katholischen Arztes und einer protestantischen Französin aus Straßburg geboren. Eingebettet in eine deutsch-französisch und katholisch-protestantisch gemischte Familie war er bereits während seiner Kindheit anders als die meisten. Er wuchs im Zeitgeist der Aufklärung auf und begleitete seinen Vater zunächst nach Straßburg, dann zurück nach Düsseldorf, Brüssel und Aachen. Varnhagen fühlte sich aufgeklärter als die anderen Kinder. Teilweise getrennt von seiner Mutter und Schwester, lebte er eine einsame Kindheit und lernte sich selbst zu beschäftigen. In Straßburg beobachtete Varnhagen die Spuren der Revolution.
Das die Welt bewegende Ereignis am Schlusse des achtzehnten Jahrhunderts war die französische Revolution. Alle Staaten und Völker empfanden diese Bewegung, an welcher überall die regsameren Geister teilnahmen, als wäre sie eine auch ihnen heimische Angelegenheit.
(Varnhagen 1837, Bd. 1, S. 2)
Sein Vater stand den politischen Umwälzungen aufgeschlossen gegenüber: Er leistete den französischen Bürgereid und wurde Mitglied der dortigen Nationalgarde. Zurück in Düsseldorf erlebte Varnhagen, wie sein Vater des Landes verwiesen wurde und später auch Aachen verlassen musste, da er als Anhänger der Französischen Revolution verleumdet wurde. Als Neunjähriger zog Varnhagen mit seinem Vater für sechs Jahre nach Hamburg (1794 bis 1800), wo er eine halbwegs kontinuierliche Erziehung genoss: Er las viel, hörte Vorlesungen der Hamburger patriotischen Gesellschaft und wurde auf den Arztberuf vorbereitet.1
Lernender und Lehrender im Aufbruch
Als Jugendlicher erlebte Varnhagen den Aufbruch in die Moderne, aber auch die Widerstände dagegen. Im Sommer 1800 verschlug es ihn nach Berlin, wo er drei Jahre lang in der chirurgischen Pépinière („Pflanzschule“, Bezeichnung einer preußischen Ausbildungsstätte für Militärärzte) studierte. Die Lehranstalt verschloss sich „hartnäckig dem wissenschaftlichen Fortschritt“, was „keineswegs nach dem Geschmack des aufgeschlossenen und vielseitig interessierten jungen Mannes“ war, so jedenfalls nach Greiling (1993, S. 25). Varnhagen lehnte sich auf und flog nach drei Jahren von der Schule.2
1803 wurde er Hauslehrer bei der Familie Cohen, die ebenfalls in Berlin wohnte. Hier machte er Bekanntschaft mit den Poeten Fichte, Neumann, Chamisso, Fouqué und seiner späteren Frau, der jüdischen Juwelierstochter Rahel Levin (1771-1833). Diese „berühmteste Berliner Salonnière überhaupt“ betrieb seit den 1790ern einen der angesehensten literarisch-künstlerischen Salons in Berlin (Wilhelmy-Dollinger 2000, S. 83).
Erfahrungen und Studien im Angesicht des Vormarsches von Napoleon
Nach dem Bankrott des Fabrikanten Cohen übersiedelte er 1804 nach Hamburg und setzte seine Arbeit als Lehrer bei der Bankiersfamilie Hertz fort. Dort fing er eine Liebschaft mit der Frau des Hauses Fanny Hertz (1777-1829) an.3 Mit zwanzig Jahren (1805) wechselte er auf die Hamburger Gelehrtenschule des Johanneums, lernte Latein sowie Griechisch und tat sich mit Wilhelm Neumann zusammen, den er aus der Zeit bei der Familie Cohen kannte. Mit ihm zog Varnhagen 1806 weiter nach Halle, um Medizin zu studieren. Während eines erneuten Berlin-Aufenthaltes im Herbst wurde er Augenzeuge, wie die französischen Truppen in die Stadt einmarschierten.
Noch im selben Jahr ließ Napoleon die Universität Halle schließen, sodass Varnhagen nach Berlin zurückkehrte, dabei Rahel wiedertraf und lieben lernte. Das Jahr 1807 verbrachte er mit Reisen zwischen Berlin, Hamburg, Halle und Nennhausen. Ab September 1808 führte er sein Medizinstudium in Tübingen fort, wo er Kerner, Uhland (Dichter) und Cotta (Verleger) kennenlernte. Im darauffolgenden Frühling reiste er nach Hamburg, um sich so schnell wie möglich als Arzt ausbilden zu lassen; im Mai weilte er wieder bei Rahel in Berlin. Varnhagen war sich bis Mitte zwanzig noch unschlüssig, welche Karriere er einschlagen sollte.4
Anmerkungen
1 Vgl. Rosenstrauch 2003, S. 7ff., 26, 36f., 46; Greiling 1993, S. 22ff.
2 An anderer Stelle heißt es allerdings: „1803 Varnhagen bricht das Studium ab, nachdem die Finanzierung durch einen Freund der Familie ausbleibt.“ (Gatter 2004)
4 Zum gesamten vorhergehenden Abschnitt vgl. Rosenstrauch 2003, S. 9, 46ff.; Wiedenmann 1994, S. 79f.; Greiling 1993, S. 25ff., 92f.