PR-Praxis und -Berufsstand: Entwicklungsphasen (I)
Neubeginn nach dem Krieg
„Neubeginn“
Bezüglich der Realgeschichte stützen wir uns vor allem auf drei Entwicklungsmodelle bzw. zeitliche Ordnungsversuche. Zum ersten Modell: Bentele fasst in seiner Periodisierung deutscher Öffentlichkeitsarbeit/PR die Jahre von 1945 bis 1958 als „Neubeginn und Aufschwung“. Wichtige Merkmale jener Zeit waren:
Nach 1945, in der Phase des wirtschaftlichen und politischen Neuaufbaus gab es sicher zunächst einige Jahre, in der zwar auch da und dort Pressearbeit betrieben wurde, eine breitere Entwicklung begann aber erst mit Beginn der fünfziger Jahre. Die ersten Publikationen zur PR von 1951 und in den folgenden Jahren waren Reflex nicht nur über die Neuorientierungen und über das gewandelte demokratische Selbstverständnis von Public Relations, sondern auch Indiz für deren quantitative Ausdehnung. PR musste sich in der parlamentarischen Demokratie nicht nur neu definieren, sondern sich selbstverständlich deutlich von (nationalsozialistischer) Propaganda abgrenzen. Dass auch die Abgrenzung von Werbung wichtig war, lag in der Tätigkeitsstruktur selbst begründet. Innerhalb dieser vierten Periode war die Orientierung am amerikanischen Vorbild wichtig, die ja von Anfang an unter demokratischen Vorzeichen stattfinden konnte.
(Bentele/Liebert 2005, S. 228)
Schon vor 1949 – dem Gründungsjahr der Bundesrepublik Deutschland (BRD) – fand faktisch Öffentlichkeitsarbeit/PR in den Westzonen des besetzten Deutschlands statt. Es liefen zum Beispiel (…)
(…) private Initiativen, vor allem zur Abwehr der Demontagen durch die Besatzungsmächte. Viel zu wenig gewürdigt worden ist zum Beispiel das Wirken von Ahrens1 im Ruhrgebiet, der über seine direkten Kontakte zu McCloy amerikanische öffentliche Meinung aktivierte zugunsten eines Wiederaufbaus der deutschen Wirtschaft.
(Skibowski 2002, S. 122. Hinweis: Der Morgenthauplan zielte zunächst auf die Umwandlung Deutschlands in ein reines Agrarland.)
Vor allem 1948 – im Jahr der Währungsreform – starteten viele Organisationen und/oder ihre Kommunikationsaktivitäten neu oder durch. Mitte 1948 richtete die Deutsche Shell AG eine PR-Abteilung ein (vgl. Oeckl 1987, S. 29). Auch gründete sich im Mai 1948 die Deutsche Zentrale für Fremdenverkehr, die auf frühere Vorbilder zurückblicken konnte und nun u.a. das „Goethe-Jahr“ 1949 vorbereitete.2 1949/1950 entstanden viele bundesdeutsche Wirtschafts- und Arbeitgeberverbände, die allesamt Interessenkommunikation bzw. Presse- und Öffentlichkeitsarbeit betrieben (vgl. Oeckl 1987, S. 29).
Bentele spricht also vom Neubeginn, nicht etwa Beginn der deutschen PR nach 1945. Dies auch deshalb, weil er – wie viele andere PR-Wissenschaftler auch – die „Importthese“ ablehnt, Öffentlichkeitsarbeit/PR sei erst nach 1945 aus den USA nach Westeuropa/Westdeutschland importiert worden. Auch zeitgenössische oder mit kurzem Abstand rückblickende Beobachter auf die Zeit von Mitte der 1940er- bis Mitte der 1960er-Jahre, wie beispielsweise Haacke (1969, S. 5ff.; hier zitiert nach Nöthe 1964, S. 89), befanden, dass PR für Deutschland „nicht umwerfend neu“ sei.
„Anfänge“
Das zeitgenössische Wörterbuch der Soziologie hingegen beschrieb den Zustand der PR in der Bundesrepublik Mitte der 1950er-Jahre als noch in den Anfängen befindlich. Allerdings gilt es dabei zu berücksichtigen, dass der Lexikoneintrag ein modernes, „amerikanisches“ PR-Verständnis voraussetzt. PR wird darin eindeutig als eine neue Qualität unternehmerischer bzw. organisationeller Kommunikation definiert, die von alter „Firmenpropaganda“ unterscheidbar sei.
Ob nun aber bei der folgenden Bestandsschilderung die traditionelle deutsche Pressearbeit („Literarische Büros“ etc.) bzw. „alte“ Kommunikation von Organisationen mitgemeint ist oder nicht, muss offen bleiben. Gesonderte Stichworte zu Pressearbeit3, Propaganda oder Werbung enthielt das Soziologie-Wörterbuch von 1955 jedenfalls nicht.
In Deutschland steht die Organisation der P. R. noch in den Anfängen: wohl haben einige größere und fortschrittliche Firmen und Wirtschaftsverbände diese Aufgaben erkannt und P. R.-Abteilungen eingerichtet, vor allem die Werkzeitungen werden gefördert, aber Behörden und sonstige Großorganisationen, deren Arbeit wesentlich durch eine Vertrauenszustimmung der Öffentlichkeit gefördert würde, folgen nur zögernd diesen neuen Wegen, besonders unser wirtschaftliches Ausbildungswesen beachtet sie noch ungenügend.
(Schelsky 1955, S. 406f.)4
Rolle des Berufsverbandes, erste berufliche Regelwerke und Ausbildungsinitiativen
Die 1958 beginnende neue Periode benennt Bentele mit „Konsolidierung des Berufsfelds“. An ihrem Anfang steht als Zäsur die Gründung eines Berufsverbandes (vgl. auch Tebrake 2019, S. 184ff.):
Das Jahr 1958, in das die Gründung der Deutschen Public Relations Gesellschaft (DPRG) fällt (08.12.1958 in Bonn), markiert den Beginn der fünften Periode. Das Berufsfeld konsolidiert sich, regionale Diskussionszirkel (z. B. im Raum Hamburg), die schon vor dieser Gründung bestanden haben und der Berufsverband selbst treiben die Selbstverständnisdiskussion z. B. im Rahmen der jährlichen Tagungen weiter. Die Existenz der DPRG ermöglicht den systematischen beruflichen Austausch und die Vernetzung von Einzelpersonen, ermöglicht bundesweite Diskussionen und Aktivitäten zur Ausbildung und bezüglich anderer für das gesamte Berufsfeld wichtigen Fragen. Es ist eine Phase des kontinuierlichen Ausbaus der beruflich betriebenen PR, des quantitativen Wachstums und der Festigung des beruflichen Selbstverständnisses.
(Bentele/Liebert 2005, S. 228)
Über den ersten DPRG-Vorsitzenden „Professor Carl Hundhausen als den bekanntesten Fachvertreter“ hält das PR-Museum einen eigenen Beitrag vor. Dies gilt ebenso für Albert Oeckl, der „dieses Amt 1961 übernahm“ (Szyszka 2015, S. 498).
Wichtigster Meilenstein war zunächst 1964 die Verabschiedung beruflicher Verhaltensgrundregeln (Grundsätze der DPRG), denen eine bis in die 1990er Jahre populäre PR-Definition vorangestellt war: ‚Public Relations sind das bewusste und legitime Bemühen um Verständnis sowie um Aufbau und Pflege von Vertrauen in der Öffentlichkeit auf der Grundlage systematischer Erforschung‘.
(Szyszka 2015, S. 498)
„Vom Berufsverband und einzelnen Individuen initiierte außerakademische Ausbildungsinstitutionen werden gegründet“ (z B. ab 1958 PR-Kurse in der Führungskräfte-Akademie Bad Harzburg; Bentele/Liebert 2005, S. 228f.).
Rolle bestimmter Charaktere und Einzelpersönlichkeiten
Generell wurde das Berufsfeld noch stark von bestimmten Einzelpersönlichkeiten und ihrem Talent bzw. Charisma geprägt.
Darunter seien auch welche gewesen, die „sich ein bemerkenswertes Unverständnis für die neue Zeit zu bewahren vermochte(n)“. Jarchow verweist hier als Beispiel auf den Grafen Zedtwitz-Arnim und seine Biografie:
Die PR-Leute jener Zeit waren durch ‚Stallgeruch‘ und als kriegserfahrene Offiziere den industriellen Eliten verbunden; sie waren von der Ostfront an die ‚Konsumfront‘ gewechselt. (S. 14 …) Eine theoretische Fundierung ihrer Arbeit war für diese Menschen nicht notwendig. Zedtwitz illustriert seine Verachtung der Theorie durch einen Witz auf Kasino-Niveau. Theoretische Vorbilder jener Gründergeneration im PR-Bereich ‚waren eher Friedrich der Große oder Napoleon, Rommel oder Montgomery‘. Die Folge dieser ‚Entwicklung klassischer PR der Vernunft und des Dialoges‘ war es, dass überall geordnete kommunikative Verhältnisse herrschten.
(Jarchow 1992, S. 15)
Dafür, dass in jener Anfangszeit militärisch-strategische Verständnisse gepflegt wurden, gibt es auch andere Belege im PR-Museum (vgl. z. B. die Erinnerungen von Piwinger an seine Berufsanfänge).
Anmerkungen
1 Dr. Hans Dietrich Ahrens, PR-Berater aus Essen, hat über seine Aktivitäten 1947-1949 Beiträge im PR-Magazin 3/1979, S. 36ff., und 3/1983, S. 19ff., veröffentlicht und auch ein Buch geschrieben: „Demontage“ (Universitas-Verlag München; vgl. PR-Magazin 7/1982).
2 Vgl. Rademacher 2002, S. 82. Dort auch: „Gründungsmitglieder waren neben der Deutschen Reichsbahn und der Deutschen Post der Bund Deutscher Verkehrsverbände, der Deutsche Bäderverband, die Arbeitsgemeinschaft (AG) des Hotel- und Gaststättengewerbes, die Deutsche Rejsebüro GmbH sowie die AG der kommunalen Spitzenverbände, die AG der Industrie- und Handelskammern, die AG Hapag-Lloyd und die AG der Vereinigungen der öffentlichen Verkehrsbetriebe.“ An einigen Mitgliedern und am Themenjahr für 1949 erkennt man, dass 1948 auch noch gesamtdeutsche und nicht nur trizonale Ambitionen verfolgt wurden.
3 Das Stichwort „Presse“, verfasst von W. Haacke und F. Lenz erwähnt kurz, dass für akademisch gebildete Journalisten auch „Büros für public relations“ in Frage kommen. Substanziellere Aussagen zur Presse- und Öffentlichkeitsarbeit finden sich unter diesem Stichwort aber nicht. Vgl. Bernsdorf/Bülow 1955, S. 399.
4 Der Vollständigkeit halber und um einen internationale Einordnung zu ermöglichen, hier auch die Aussagen zur Situation in den USA: „Tausende der größeren und mittleren Firmen haben dort Programme der P. R.-Tätigkeit entwickelt oder gar besondere Abteilungen zur Pflege der öffentlichen Meinung in ihrer Unternehmensleitung eingerichtet. Daneben gibt es mehr als 500 Firmen, die diese Meinungspflege zu einem eigenen neuen Unternehmenszweig gemacht haben; diese Institute (‚p.r.-councils‘) helfen den anderen Unternehmungen, ihre Politik zu formulieren und in günstige Maßnahmen und Informationen für die Öffentlichkeit umzusetzen. Universitäten und sonstige Fachschulen für leitende Wirtschaftler haben diesen Gegenstandsbereich in ihre Ausbildungsprogramme aufgenommen. (…). Neben den wirtschaftlichen Unternehmen haben auch Behörden und politische, wirtschaftliche Organisationen jeder Art in den USA die Bedeutung der P.R. für sich erkannt und pflegen sie in ähnlicher Form wie die Firmen; so sind insbesondere die amerikanischen Gewerkschaften den Unternehmensleitungen in der Pflege der öffentlichen Meinung gefolgt.“ (Schelsky 1955, S. 406)