Führende Soziologen über PR (III)

Habermas als einflussreichster deutscher PR-Kritiker

Weil der deutsche Philosoph und Soziologe Jürgen Habermas auch aktuell eine überragende Bedeutung als gesellschaftswissenschaftlicher – hier: handlungs- und diskurstheoretischer – „Supertheoretiker“ besitzt – ähnlich wie sein „systemtheoretisches Pendant“ Niklas Luhmann –, wird ihm das PR-Museum einen gesonderten Beitrag widmen.

Da seine explizitesten und pointiertesten Aussagen zur PR vom Anfang der 1960er-Jahre stammen, wollen und müssen wir ihn hier in unserer Abhandlung mindestens erwähnen.

PR-bezogene Habermas-Rezeption in einschlägigen PR-Überblickswerken

Der frühe Habermas …

Obwohl man bezüglich Habermas nicht von einer ausgearbeiteten und umfassenden, spezifischen „PR-Theorie“ sprechen kann, kommt kein PR-Grundlagenwerk an seiner Auffassung vorbei. Kunczik referiert bereits in der Erstausgabe seines Theorie-Überblicksbuches (1993, S. 154-160) ausführlich Habermas‘ Hauptgedanken aus dem „Strukturwandel“. Insbesondere:

Im Strukturwandel der Öffentlichkeit wird PR von Jürgen Habermas als zentrales Strukturmerkmal der Gegenwartsgesellschaft verstanden. (…) PR ist für Habermas zu einem Schlüsselphänomen für die öffentliche Meinung geworden. (…) Die bürgerliche Öffentlichkeit nimmt im Maße ihrer Gestaltung durch PR wieder feudale Züge an. (…) Habermas sieht PR in diametralem Gegensatz zu den funktionalistischen PR-Autoren nicht als Produzent von Vertrauen (…), sondern als Manipulationsinstrument zur Produktion falschen Bewusstseins. PR ist nicht Garant für Demokratie, sondern verhindert Demokratie.

(Kunczik 1993, S. 154f., 156, 160)

... und der spätere Habermas

Das gleiche Buch von Kunczik widmet an anderer Stelle mehrere weitere Seiten (1993, S. 214-222) der Theorie des kommunikativen Handelns von Habermas aus den 80er-Jahren und ihrer PR-bezogenen Rezeption in den USA. In Deutschland lässt sich diese Theorie-Rezeption vor allem über die Habermas-Adaption in Roland Burkarts Ansatz der verständigungsorientierten Öffentlichkeitsarbeit festmachen (vgl. bei Kunczik 1993, S. 225-229; vgl. auch Fröhlich/Szyszka/Bentele 2015, S. 277-304).1

Die Unterscheidung PR-bezogener Rezeption von Auffassungen aus den 1960er- und den 1980er-Jahren findet sich auch bei Westerbarkey (2015) wieder. Dieser Aufsatz über kritische PR-Ansätze im einschlägigen Handbuch der PR (Fröhlich/Szyszka/Bentele 2015) untertitelt: „Gesellschaftstheoretische Perspektiven. Der frühe Habermas: Strukturwandel“ (S. 262-264) und „Handlungstheoretische Perspektive. Der spätere Habermas: Verständigungsdefizite“ (S. 267-268).

Der Kern und die vehementeste Ausdrucksform der Habermasschen PR-Kritik stammen jedoch – wie gesagt – aus den 1960er-Jahren.

Schelsky-Schüler Clausen zur Werbe-Soziologie: „PR“ als Flucht der Werbung in den Sozialoptimismus

Zwei Jahre nach Jürgen Habermas‘ „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ entwarf Clausen (1964) eine „Soziologie der Wirtschaftswerbung“, in der PR – allerdings vergleichsweise knapp – vorkommt. Lars Clausen (1935-2010) hatte 1963 bei Helmut Schelsky in Münster promoviert, habilitierte sich 1967 und wurde Soziologie-Professor in Kiel. Zwei Jahre stand er der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) vor.2

Clausen (1964, S. 35-39) fokussierte auf die Suche nach Unterschieden der PR gegenüber Werbung und bezog sich dabei vor allem auf Carl Hundhausen, dem er einen „bedeutsamen Einfluss in Deutschland“ zumaß, seinen Doktorvater Helmut Schelsky und auf Jürgen Habermas.

Postulierte Interessenübereinstimmung als einziges Unterscheidungsmerkmal

Hundhausens „Werbung um öffentliches Vertrauen“ (1951) brachte er wie folgt auf den Punkt:

Nach ihm ist es den ‚public relations‘ nicht um das Anpreisen bestimmter Waren (‚Werbung‘) zu tun, sondern sie sind ‚die Unterrichtung der Öffentlichkeit über sich (sc. den Unterrichter) selbst, mit dem Ziel, um Vertrauen zu werben‘. Ihre Prinzipien sind (1) Wahrheit, (2) Vollständigkeit, (3) Offenheit, (4) Eigeninitiative, (5) Selbsterziehung (der Urheber) und (6) übereinstimmende Interessen beider Seiten.‘ Dieses letzte ist der theoretische Angelpunkt (…) Dies postulierte gemeinsame Interesse wäre nach unseren Voraussetzungen auch die einzige einsichtige Abgrenzung der ‚public relations‘ von der ökonomischen Werbung; alles andere ließe sich auf dieses Axiom zurückführen.

(Clausen 1964, S. 37)

Auch Schelsky unterstellte er das gleiche Unterscheidungskriterium und zitierte dabei dessen Eintrag im Wörterbuch der Soziologie (1955), siehe hier weiter vorn. Und:

Er (Schelsky) zeigt dann die Mittel der public relations auf (…), sodann die ‚Lösung öffentlicher Aufgaben‘. Es kann dies Leistungen außerhalb jeden Marktes bedeuten; dies ist jedoch generell nicht anzunehmen, und Schelsky weist demzufolge auf eine long-run-Motivierung hin: ‚Es hat sich gezeigt, dass sich langfristig ein solcher ,goodwill‘ durchaus auch für die wirtschaftlichen Zielsetzungen des Unternehmens auszahlt.‘

(Clausen 1964, S. 37)

„Attitüde gemeinnützigen Verzichts auf eigene Interessen“ (Clausen 1964, S. 38)

Die „Gefahr“, dass PR nichts anderes sei als „allenfalls organisatorisch-institutional oder methodisch verselbstständigte(r) Teil allen ökonomischen Werbens“, sei gegeben, wenn „das Publikum der public relations zugleich das Publikum der Marktangebote ist – aktuell oder potentiell“ (Clausen 1964, S. 37f.). Hierzu zitierte Clausen aus Habermas‘ „Strukturwandel“:

Private (Werbung) wendet sich jeweils an andere Privatleute, soweit sie als Verbraucher in Frage kommen; der Adressat der public relations ist die ,öffentliche Meinung‘, sind die Privatleute als Publikum und nicht als Konsumenten unmittelbar. Der Absender kaschiert, in der Rolle eines am öffentlichen Wohl Interessierten, seine geschäftlichen Absichten.

(Habermas 1962, S. 212. Zitiert nach Clausen 1964, S. 38)

Clausen setzte fort: „Dies tritt dann nicht ein, wenn übergeordnete Interessen als Urheber nachgewiesen werden können, und nur dann nicht, sofern gänzlich auf Marktrücksichten verzichtet wird. Ein Beispiel wäre anonyme Katastrophenhilfe.“ (Clausen 1964, S. 38)

Der Abschnitt über PR endet mit folgender Feststellung des Autors:

Zu bemerken ist (…) an den Beispielen dieses Abschnittes eine fortwirkende Tendenz zur euphemischen Selbstbeschreibung. Diese ist das selbstreflektierende Spezifikum der allgemeinen, auf dem marktlichen Interessenwiderstreit beruhenden Euphemie ökonomischer Werbung, ihrer Flucht in den Sozialoptimismus, einer Flucht vor demselben Schicksal, dem der Begriff ‚Reklame‘ schon nicht entgehen konnte.

(Clausen 1964, S. 39)

 

Hier endet der erste Teil der Abhandlung über die PR in der frühen Bundesrepublik.

Ein zweiter Teil setzt die im ersten Teil begonnene Auseinandersetzung mit der PR-Reflexionsgeschichte fort und betrachtet vor allem die ersten Ansätze – zum Beispiel von Carl Hundhausen und mehreren Promovenden – für eine spätere PR-Wissenschaft. Außerdem werden politisch-ideologisch bzw. interessenpolitisch ambitionierte Ansätze – so von Herbert Gross oder die gewerkschaftsnahe PR-Kritik – behandelt.

 

Autor(en): T.L.

Anmerkungen

1 Vgl. Wikipedia 2020: https://de.wikipedia.org/wiki/Lars_Clausen (Abruf am 25. August 2020).

2 Der Verfasser dieser Zeilen hat 1995 gemeinsam mit Günter Bentele einen Tagungsband herausgegeben: Bentele/Liebert 1995.