Riesman u.a. 1958 (II)
Von der Traditions-Lenkung zur Innen-Lenkung
Der „Wandel von der Traditions-Lenkung zur Innen-Lenkung“ (S. 100) wird von medialen Prozessen begleitet. Industrialisierung und Alphabetisierung – die in einzelnen Ländern historisch-zeitlich durchaus unterschiedlich einsetzten und in manchen sogar erst bei Erscheinen des Fachbuches von Riesman u.a., prinzipiell aber mit Frühkapitalismus und Renaissance beginnend – führen dazu, dass „sowohl die Alten als auch die Jungen (…) tief beeindruckt von der erregenden Neuigkeit der literarischen Unterweisung“ werden, ein „weitverbreiteter Hunger nach Zeitungen und Büchern setzt ein“ (S. 100). Dies führt zu (…)
(…) einem entscheidenden Bruch mit der primären familiären Gruppe und daher mit der Traditions-Lenkung (…) Die Presse nahm sich seiner an diesem Wendepunkt an und stützte seine unsicheren Schritte, die ihn von der primären Gruppe fortführten, indem sie die Wertsetzungen dieser Gruppe kritisierte und ihm das Gefühl gab, dass er Verbündete – wenn auch anonyme – habe, die ihn auf diesem Weg begleiten. Auf diese Art und Weise trug die Presse dazu bei, den jetzt individualisierten Menschen mit der sich neu formenden Gesellschaft zu verknüpfen. (…) So konnte der Leser vor der Kritik seiner Nachbarn in die Zeitung fliehen und seine innen-geleiteten Verhaltensweisen mit den in der Presse geschilderten vergleichen.
(Riesman u.a. 1958, S. 100f.)
Presse förderte also – so unsere Interpretation – die Selbstemanzipation der Menschen als Individuen und bewirkte deren Integration in eine aus ihnen bestehende Gesellschaft. Die konkreten Wirkungen der Presse auf die Menschen konnten (und können) durchaus unterschiedlich sein und häufig versuch(t)en die Herrschenden, diese zu kanalisieren:
Gerade durch die Anonymität und Abstraktheit der Situation, in die das gedruckte Wort hineinfällt, kann sein Empfang entweder zu schwach oder zu stark sein. Dass viele einen zu guten Empfang für die Kunde der sozialen Mobilität hatten, erregte of das Missfallen der herrschenden Schichten, die diese lieber an ihrem ‚angestammten Ort‘ festgehalten hätten. (…) Während so Sagen und Mythen in Gesellschaften, die auf Traditions-Lenkung beruhen, die Tradition stützen, indem sie die aufrührerischen Neigungen ihrer Zuhörer in den kulturellen Zusammenhang eingliedern, kann das gedruckte Wort seine Leser sowohl in die richtige als auch in eine falsche Richtung steuern. Das beweist der Ruf nach Zensur, der sich sofort erhebt, wenn sich literarische Bildung und Schrifttum weiter ausbreiten.
(Riesman u.a. 1958, S. 102f.)
Herrschte unter traditionsgeleiteten Verhältnissen gegenseitige ‚Gleichgültigkeit‘ vor, so äußert sich der „innen-geleitete Charakter“ politisch (und medial) „im Stil des ‚Moralisten‘“ (S. 175).
Von der Innen-Lenkung zur Außen-Lenkung
Begleitet u.a. durch Bevölkerungsschrumpfung, neue Möglichkeiten für „Muße, Sympathie und Wohlstand“ (S. 174) und die Verlagerung menschlicher Funktionalität von der „Arbeitskraft“ (in der Phase der Innen-Lenkung) auf „menschliche Beziehungen“ (S. 137), wird schließlich das Stadium der Außen-Lenkung erreicht. In den USA habe sich dieser Wandel innerhalb „der letzten fünfzig Jahre“ vollzogen (S. 220). Der „außen-geleitete Charakter“ offenbart sich „im Stil des ‚Informationssammlers‘ (‚inside-dopester‘)“ (S. 175). Dieser Verhaltensstil hat seinen „Ursprung nicht in der Berufs-, sondern der Verbrauchersphäre“ (S. 193). „Die Mehrheit der Informationssammler nimmt keinen aktiven Anteil an der Politik“ (S. 194).1
Mit diesem Stilwandel geht ein Wandel in der Einstellung zum politischen Geschehen von der ‚Entrüstung‘ zur ‚Toleranz‘ und in der Entscheidungsgewalt von der Vorherrschaft einzelner Führungsschichten zur Machtaufsplitterung unter viele verschiedenen, aber kaum unterscheidbare Interessengruppen einher.“ (S. 175) Oder in anderen Worten: „An die Stelle einer einzigen Hierarchie mit einer herrschenden Klasse an der Spitze sind die Interessenverbände (veto groups) getreten, unter denen die Macht aufgespalten ist. (…) Eine scharf umrissene Machtstruktur trug dazu bei, dass sich die Zielsetzungen der Innen-Geleiteten in solcher Klarheit formten; eine amorphe Machtstruktur führt dazu, dass man als Außen-Geleiteter seine Lebensorientierung aus der Verbrauchersphäre bezieht.
(Riesman u.a. 1958, S. 220)
Auch hier, unter außen-geleiteten Verhältnissen, haben die „Massenkommunikationsmittel“ bzw. „Massenunterhaltungsmittel“ wichtige Funktionen.
Erstens betreiben sie „Verbrauchererziehung“. Sie lehren den außen-geleiteten Menschen, „das politische Geschehen und die politischen Nachrichten und Verhaltensweisen als Verbrauchsgüter zu betrachten“ (S. 202). Auch setzt die „Ausbildung der Kinder als Verbraucher immer früher ein“ (S. 108). Zudem unterweisen sie in „die neuen Formen von Geselligkeit“ (S. 174), sie sind „Ware, Spiel, Unterhaltung, Zerstreuung“ (S. 202).
Zweitens haben sie, „gerade auf Grund ihrer Sensibilität für jeden auf sie ausgeübten Druck, ein Interesse daran, das Publikum zur Toleranz zu erziehen“. Dabei wird „nicht dem Inhalt der Botschaften die größte Bedeutung beigemessen (…), sondern der ‚aufrichtigen und überzeugenden Art‘ (sincerety), in der sie geäußert werden.“ Dies führt aber dazu, „dass das Publikum über unzureichende fachliche Leistungen (in der Politik etc. – T.L.) tolerant hinwegsieht“. (S. 202) Oder an anderer Stelle:
Die Massenkommunikationsmittel fungieren als eine Art Marktschreier für die politische Schau. Diese haben ein Allheilmittel entdeckt, um die Gefahr der Gleichgültigkeit und der Teilnahmslosigkeit zu bekämpfen: ‚glamor‘, die glanzvolle attraktive Aufmachung.
(Riesman u.a. 1958, S. 203f.)
Drittens: „da noch ein ganz bedeutsamer Restbestand an innengeleiteten moralisierenden Einstellungen in der politischen Berichterstattung, den Leitartikeln und Kommentaren in Amerika vorhanden ist, verlangsamt dies zwar die durch Massenunterhaltungsmittel geförderte Verbreitung von Toleranz und Passivität, kann sie aber endgültig nicht aufhalten.“ (Riesman u.a. 1958, S. 202)
Anmerkungen
1 Der Informationssammler hat „seine emotionale Beteiligung an einer politischen Welt (ge)löst, die ihm von ungeheurer Kompliziertheit und keinem Eingriff zugänglich zu sein scheint – zu einem Teil wird eben gerade dieser Eindruck erst wachgerufen, weil er sich persönlich aus allem heraushält.“ (Riesman u.a. 1958, S. 195)