Riesman u.a. 1958 (I)
Einführung in das Buch
Das Buch von David Riesman1, das er mit zwei Mitarbeitern, Reuel Denney und Nathan Glazer, herausbrachte (es erschien in den USA erstmals 1950 und wurde zu einem Bestseller, vgl. S. 7 und 322), kann mangels umfangreicher expliziter Beschäftigung mit Public Relations nicht als „PR-theoretisches“ Werk charakterisiert werden. Allerdings ist es trotzdem für eine theoretische Begründung von PR hochinteressant, weil es soziologische, sozialpsychologische, individuell-charakterliche, politische, kommunikativ-mediale u.ä. Rahmenbedingungen von PR problematisiert – und dies historisch differenziert.
Drei Gesellschaftsphasen und ein Zukunftsideal
Riesman u.a. (1958) modelliert die Gesellschaftsentwicklung als historisch-soziale Abfolge von traditionsgeleiteten, innen-geleiteten und außen-geleiteten Verhältnissen, die sich zugleich als politische Verhaltensstile (S. 175ff.) und menschliche Charaktere wiederfinden.2 Der Vorwort-Schreiber, der seinerzeit eher PR-kritische und gewerkschafts- sowie SPD-nahe Soziologe Helmut Schelsky, würdigte das Buch als „eine gedankenvolle und aufschlussreiche sozialwissenschaftliche Deutung unserer modernen industrialisierten Welt überhaupt“ (S. 7).
Die zeitgenössische Gegenwart der USA sei durch die „Außen-Leitung“ gekennzeichnet. Unter diesen Verhältnissen sei das „Individuum“ zur „Anpassung (…) versucht“ bzw. „gezwungen“ oder „wenn diese misslingt, zur Anomalie getrieben“ (Riesman u.a., S. 320). Dies will auch der deutsche Titel „Die einsame Masse“ ausdrücken, im Original: The Lonely Crowd. Mit dem Wandel von der Innen- zur Außen-Leitung hätten zwar die „(traditionellen) Führer die Macht verloren“, diese ist aber „nicht in die Hände der Geführten gelangt“ (S. 251).
„Die aussichtsreichere Lösung gegenüber den Mängeln der Außen-Lenkung liegt jedoch (…) nicht bei der Innen-Lenkung, sondern in der Autonomie der Person.“ (S. 174; vgl. auch S. 251ff.)
Die Idee, dass die Menschen frei und gleich geschaffen sind, ist wahr und zugleich irreführend: die Menschen sind verschieden geschaffen und sie verlieren ihre soziale Freiheit und ihre individuelle Autonomie, wenn sie versuchen, einander gleich zu werden.
(Riesman u.a. 1958, S. 320; Schlusssatz des Buches)
Damit zeigt der Autor ein fernes Ideal einer erneuten und individuellen Selbstbefreiung auf, die die Nachteile der Innen-Leitung überwinden würde. Das Buch verkündet also eine (normative) „Botschaft“ und ist „in Form und Stil keine rein wissenschaftliche Abhandlung“ (S. 321, Nachwort der Übersetzerin Renate Rausch).
Für die Begründung von PR ist allerdings weniger dieses in der Zukunft liegende Ideal interessant, sondern die vom Autor vorgenommene ausführliche Darstellung der sozio-historischen Entwicklung hin zum Amerika in der Mitte des 20. Jahrhunderts – mit direkten Ableitungen zu Funktionen öffentlicher Kommunikation bzw. der Massenmedien und eher indirekten zur PR.
Anmerkungen
1 Riesman galt zum Zeitpunkt des Erscheinens der deutschen Ausgabe „als einer der führenden Soziologen der Welt“. Geboren 1901, studierte er zunächst Biochemie und wechselte dann ins Rechtsfach über: war Rechtsanwalt und Rechtswissenschaftler. Als Staatsanwalt in New York wandte er sich immer mehr soziologischen Fragen zu. 1949 wurde er zum Sozialwissenschaftler berufen. Sein Buch von 1950 machte ihn „mit einem Schlage berühmt“. (Helmut de Rudder in Riesman u.a. 1958, S. 329)
2 „Der innen-geleitete Mensch kommt innerlich und äußerlich nie zur Ruhe. Auf der einen Seite fesselt ihn die Produktion mit ständig neuen Aufgaben, auf der anderen Seite verbringt er sein Leben mit der dauernden inneren Erschaffung und Erarbeitung seines Charakters. (…) Der innen-geleitete Mensch fühlt sich gedrängt, ständig alle seine Kräfte zu mobilisieren (…). Berufserfüllung bedeutet für ihn Lebenserfüllung. Dagegen sieht sich der außen-geleitete Mensch vor allem Aufgaben gegenüber, die sich aus dem Umgang mit anderen Menschen und den Beziehungen zu ihnen ergeben; er findet seine Lebenserfüllung im Umgang mit Menschen. Berufsarbeit und Vergnügen sind folglich beides Beschäftigungen, deren Sinn darin gesehen wird, mit anderen Menschen fertigzuwerden.“ (Riesman u.a. 1958, S. 137) Dabei darf der „innen-geleitete“ Typ nicht so verstanden werden, dass er keine Impulse von außen bekäme. Vielmehr komme in beiden Fällen die „Steuerung (…) von außen, „nur dass sie von dem Innen-Geleiteten schon in früheren Jahren verinnerlicht wird“ (S. 172). Außerdem kann es durchaus sein, dass Menschen zwischen verschiedenen Tätigkeitsbereichen (z.B. Politik) ihren Lenkungs-Typ wechseln (S. 175). Und: „Möglicherweise spielt der außen geleitete Mensch anfangs nur mit den außen-geleiteten Verhaltensweisen. Aber am Ende wird er zu dem, was er spielt, und seine Maske ist vielleicht die unentrinnbare Realität seines Lebensstils.“ (S. 239)