Wicherns Charakter, ein Persönlichkeitsporträt

Wicherns Charakter – ein Persönlichkeitsporträt1

Sozialarbeiter, Organisator und Kommunikator

Abb.: Wichern, zeitgenössische Zeichnung. Quelle: http://www.diakonie-hamburg.de/wir/geschichte/.22/index.html (frei zum Download, gemeinfrei).

Geprägt vom Elternhaus und der Hamburger Herkunft, wuchs Wichern als offener, fantasievoller und hilfsbereiter Junge in einer neunköpfigen Familie auf. Vom Vater erbte er Feingefühl und die außergewöhnliche Arbeitskraft, von der Mutter das Temperament und die unbeherrschte Heftigkeit. Das spiegelte sich in seinem tage- und nächtelangen Arbeiten und seinem Tatendrang wider. Neben dem Hang zum Workaholic besaß er eine ausgeprägte soziale Kompetenz, die ihn zum „Lobbyisten“ für die Unterschicht avancieren ließ. Ihm war ein intuitives Verständnis für die Stimmungen der Gesellschaft und die Nöte des Proletariats gegeben.

Mit seinem nüchternen Sinn für die Wirklichkeit verfügte er zudem über eine glänzende Organisationsgabe. Er erkannte das Nächstliegende und praktisch Erreichbare, ging systematisch und zielbewusst an Projekte heran und setzte notwendige Kräfte an der richtigen Stelle ein. Der rationale Planer Wichern war zugleich ein leidenschaftlicher Redner, der für seine Sache brannte. Die besondere Redebegabung machte ihn zu einem fesselnden Rhetoriker.

Weiterhin fungierte er für die Innere Mission und das Rauhe Haus als Kontaktperson für Journalisten, was ihn rückblickend als Pressesprecher im modernen Sinn erscheinen lässt. Er verfasste Berichte, die man als Pressemitteilungen und Stellungnahmen verstehen kann, führte Pressekonferenzen durch und bot persönliche Führungen durch die Anstalt an.

Glaube und Arbeit

Abb.: Wichern sah die erbärmlichen Lebensverhältnisse der Arbeiterfamilien seiner Heimatstadt Hamburg, hier im Stadtteil Billbrock. Das Foto stammt allerdings von 1902, ca. zwei Jahrzehnte nach seinem Tod. Quelle: Wikimedia Commons (gemeinfrei).

Eine weitere Eigenschaft war sein ungeheueres Maß an Disziplin. Im täglichen Kampf gegen die eigenen Fehler notierte er in einem Tagebuch seine Gedanken und Handlungen, um sich besser kennen und kontrollieren zu lernen.2 Er besaß den Charakter eines unbeugsamen Willensmenschen, der vor keinem Widerstand und keiner persönlichen Gegnerschaft zurückschreckte. Diese ethische Willenskraft und tiefe Gläubigkeit hatten ihren Ursprung im Vertrauen auf Gott, aus dem er die Kraft für seine Tätigkeit gewann. Das Lebensmotto des gewissenhaften Christen war der Bibelvers: „Unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat“ (1. Joh. 5, 4).

Bald zeigte der strenge, bis an die körperlichen und geistigen Grenzen gehende Lebenswandel jedoch auch seine Schattenseiten. Die Rollen des Ehemanns und Vaters kamen oft zu kurz. Wicherns Brautbriefe lassen bis heute neben Innigkeit und Humor auch seinen Ernst und die unerbittliche Hingabe an die Arbeit durchscheinen. Er schrieb an seine Verlobte: „Für Gott wollen wir arbeiten, für seinen Dienst sei uns nichts zu teuer“. Ohne das „ist alle Liebe nur Flittergold, das vergeht wie Eitelkeit“.3 Die Hochzeit wurde wegen der Arbeit mehrfach zurückgestellt.4 Zudem litt Wichern von Jugend an unter Kopfschmerzen und war harter Kritik von Vertretern der Kirche und Gelehrten ausgesetzt, die seinen religiösen und pädagogischen Ansichten widersprachen.5 All das zehrte an seinen Kräften.

 

Autor(en): L.L.

Anmerkungen

1 Vgl. Döring 1997b, Gerhardt 1927, Böttcher 1965.

2 Vgl. Klügel 1940, S. 12.

3 Vgl. Klügel 1940, S. 25 und 29.

4 Vgl. Gerhardt 1948, S. 37ff.

5 Vgl. u. a. Böttcher 1965, S. 40f.