Wichern in der PR-Geschichte
Pionier kirchlicher Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Johann Hinrich Wichern gilt als erster, früher Vertreter kirchlicher PR-Arbeit des 19. Jahrhunderts. Döring (1997b, S. 287) charakterisiert seine kommunikative Tätigkeit „als Öffentlichkeitsarbeit für eine diakonische Institution der Evangelischen Kirche im 19. Jahrhundert – lange bevor sich die Begriffe ‚Public Relations‘ und ‚Öffentlichkeitsarbeit‘ in Deutschland etablieren konnten“.
In der Zeit der Industrialisierung zeichnete Wichern aus, dass er „als erster die Notwendigkeit einer Auseinandersetzung der Christenheit mit den dringenden sozialen Problemen dieses Jahrhunderts (…)“ (Böttcher 1965, S. 22) erkannte. Eines Jahrhunderts, das von den „Veränderungen der sozialen Gesellschaftsstrukturen durch Bevölkerungswachstum, Auflösung der Großfamilie, Erhöhung des Bildungsstandes, Urbanisierung, Veränderungen der Konsumgewohnheiten (…)“ (Döring 1997b, S. 278) geprägt war und „als Folge (…) zu Defiziten in der Gesellschaft (führte) (…)“ (ebd., S. 279). Die „soziale Kluft zwischen den einzelnen sozialen Schichten“ (ebd., S. 280) war groß und hatte vor allem in den Metropolen zum Entstehen von Armensiedlungen beigetragen.
Öffentliche Kommunikation beginnt erst sich auszudifferenzieren
Allerdings ist die Klassifizierung von Wicherns Kommunikation als Öffentlichkeitsarbeit bzw. PR nicht unumstritten. Böttcher sieht sie eher als publizistische Tätigkeit an.1 Meier-Reutti bewertet Wicherns Arbeit mit der Presse als „erstes publizistisches Programm“, welches „die personale Kommunikation der Kirche durch die technisch vermittelte zu ergänzen und mit einer ‚religiösen Volkspresse‘ zu den entkirchlichten Schichten vorzudringen“ suchte (Meier-Reutti 2004, S. 28f).
Eine Organisation, von der Organisationskommunikation bzw. PR ausgehen konnte, war durch Wicherns Kommunikation und Handeln erst zu schaffen. Er repräsentierte zunächst kein Organisationsinteresse. Wichern agierte zuvörderst als ambitionierte Persönlichkeit, Döring (1997b, S. 289) weist darauf hin: „Als Vorreiter kirchlicher Öffentlichkeitsarbeit war Wichern zu seiner Zeit ein Einzelkämpfer.“ In der Tat scheint eine Klassifizierung der kommunikativen Tätigkeit einer Einzelperson schwierig. Man mag zwar als PR-Treibende durchaus nicht nur Organisationen, sondern auch Personen ansehen können – Wichern vertrat aber kein persönliches bzw. selbstdarstellerisches, eigennütziges bzw. partielles Interesse. Er handelte vielmehr als Anwalt massenhaft Unterprivilegierter, gemeinnützig und höheren, religiösen Werten verpflichtet. Auch nachdem mit dem Rauhen Haus erste Organisationsstrukturen entstanden, blieb Wicherns umfassende, ideell-soziale Mission bestimmend.
Denkt man allerdings vom Ergebnis her, ist Wicherns Pionierarbeit als Öffentlichkeitsarbeit anzusehen. Aus seiner Kommunikation entwickelten sich später Aufgaben und Strukturen organisationeller Öffentlichkeitsarbeit, eben in bzw. aus der Inneren Mission. 1876 – als Wichern krankheitsbedingt längst nicht mehr zur Verfügung stand – gab der Zentralausschuss für die Innere Mission erstmals eine Evangelische Korrespondenz für Deutschland heraus, die allerdings nicht den gewünschten Erfolg brachte und bereits 1878 wieder eingestellt wurde.2
Bereits Wichern hatte früh den Begriff der inneren Mission ausgeweitet und als einen „das ganze Volk“ umfassenden definiert: „Ehe, Familie, Berufsgenossenschaft, Staat, Volk sollten von den Geisteskräften des Evangeliums durchdrungen werden; der Christ sollte sich am öffentlichen Leben, darum auch an dem politischen Leben beteiligen“ (Gunkel/Zscharnack 1930, Sp. 630). Damit war – so Liebert (2003, S. 41) – der Anspruch formuliert, nicht mehr nur die christliche Religion durch Missionierung zu verbreiten, sondern auch außerhalb der Gemeinschaft der Gläubigen aktiv in Gesellschaft und Politik zu wirken.
Von der „Inneren Mission“ zur „Öffentlichen Mission“
Die immer größere Bedeutung dieser letzten Aufgabenstellung zeige sich nach Liebert in der späteren Ableitung des Begriffes „öffentlicher Mission“ aus dem der „inneren Mission“. Öffentliche Mission müsse eine doppelte Aufgabe erledigen: Zum einen gehe es eben nicht nur um „die innere Gewinnung der Einzelnen für Gott, sondern durch die Existenz der Gemeinde auch um die Auseinandersetzung der christlichen Gemeinde als einer Gemeinschaft mit anderen Lebensverbindungen, also vor allem mit dem Volk, mit dem dazugehörigen Staat, und mit der Menschheit“. Zum anderen müssten die Kirchen „ihren Einfluss auf die Entwicklung des öffentlichen Lebens im Gesamtbereich der Kultur wie der staatlichen Gesetzgebung zur Geltung (…) bringen, nimmermehr in dem Sinne, dass sie selbst herrschen wollen, wohl aber in dem Sinne, dass sie dem Staat und dem Volk den besten Dienst erweisen wollen (…)“ (Gunkel/Zscharnack 1930, Sp. 631).
Allerdings verlief die Entwicklung – wie oben mit der Korrespondenz 1876-1878 bereits angedeutet – nicht unbedingt stetig erfolgreich oder kontinuierlich. „Wicherns Ruf (…) zur Beschreitung des Wegs der Arbeit an der bestehenden P(resse) verhallte“ zunächst weitgehend (Gunkel/Zscharnack 1930, Sp. 1444; auch Schwarz 1951, S. 52). Zwar hatte sich bereits 1874 in Schlesien ein Evangelischer Presseverein gegründet, sorgten doch „erst die 1880er-/1890er-Jahre für einen Entwicklungsschub“ (Liebert 2003, S. 41). Voran ging hier der 1891 gegründete Evangelisch-Soziale Presseverband für die Provinz Sachsen unter Geschäftsführer Stanislaus Swierczewski: Er begann die planmäßige Arbeit an der Tagespresse. Der 1912 von August Hinderer gegründete württembergische Presseverband realisierte den endgültigen Durchbruch zu moderner Presse- und Öffentlichkeitsarbeit. Spätestens ab 1917 wurde dann auch explizit von „Öffentlichkeitsarbeit“ gesprochen. Damit stammt die derzeit früheste bekannte Nutzung des Begriffes „Öffentlichkeitsarbeit“ aus der kirchlich-evangelischen Traditionslinie.3