Strategie und Stil
Beginn positiver Pressearbeit
Dass sich Wichern für eine intensive Nutzung der nichtkirchlichen Presse – also insbesondere der politischen Tagespresse – aussprach und diese auch selbst praktizierte, war nicht selbstverständlich. Die Massenmedien waren in den Kirchen nicht gut angesehen, sie galten als „ein negatives und destabilisierendes Element“ (Bieler 2010, S. 132).
Wichern brach mit der ablehnenden oder gar feindlichen Haltung der evangelischen Kirche gegenüber der allgemeinen weltlichen Presse. Damit ist er derjenige, der die Tür zu evangelischer Pressearbeit im modernen Sinne aufgestoßen hat.1
Konkrete Tatsachen und emotionale Appelle
Eine wichtige übergreifende Kommunikationsmethode bestand darin, die Lebensbedingungen der Unterschicht anhand der Tatsachen und konkreter Menschen anschaulich und schonungslos zu beschreiben.2 So formulierte Wichern in der Öffentlichen Begründung des „Rauhen Hauses“:
Ich bitte, mir im Geiste in diese Wohnungen zu folgen. In der Tür gerade an wohnt eine Frau, die als Kind mit Mutter und Geschwistern bei Nacht von dem trunkfälligen Vater auf die Straße getrieben zu werden pflegte. Als die Eltern gestorben waren, verehelichte sie sich und wurde Mutter von einem Sohne, der jetzt, etwa 17 Jahre alt, tagaus, tagein Lumpen und Knochen sammelt. (…) Eine Treppe höher in einer Dachwohnung (leben andere Leute). Der Mann schneidet Schwefelhölzer, das Weib unterstützt ihn dabei, ein kleiner Knabe muss die Ware verkaufen helfen. (…) Er ist minder glücklich als seine in rechtmäßiger Ehe geborenen elf Geschwister, die alle bis auf eine zehnjährige Schwester bereits verstorben sind. Vor einigen Jahren hatten jene Menschen (dürfen wir sie noch Eltern nennen?) den armen Knaben eingesperrt, um ihn erfrieren und verhungern zu lassen. Das Gewinsel des Knaben zog die Nachbarn herbei; so ist er gerettet, hat aber an dem einen Fuß einen Teil der Zehen, und an einer Hand die Hälfte der Finger eingebüßt
(Zit. nach: Thole/Galuske/Gängler u. a. 1998, S. 68f).
Ausgehend von der Schilderung dieser harten Lebensrealität vermochte er es, in seinen Zuhörern bzw. Lesern den Wunsch und einen tätigen Beitrag zur Linderung der sozialen Not auszulösen. So sprach er zum Beispiel auf der Jahresversammlung zweier Hamburger Sonntagsschulvereine am 25. Februar 1833 vor über tausend Teilnehmern:
In zündender Rede schilderte er die furchtbare Not der armen Vorstadtbevölkerung, vor allem der Jugend In herzandringender Weise bat er um Unterstützung durch Geld, Kleidung und Schuhzeug und forderte zur Mitarbeit an diesem so dringend nötigen Werke auf. Der Erfolg der Sammlung am Ausgang zeigte, dass er die Herzen der Zuhörer gepackt hatte
(Gerhardt 1927, S. 124).
Wichern war nicht nur ein rhetorisches „Naturtalent“, sondern er reflektierte auch über die Methodik. Er selbst schrieb nach einem Vortrag in Celle am 24. Februar 1844 an seine Frau:
Die Rede ist nichts anderes als die der Sache dem Zwecke gemäße Enthüllung des Gegenstandes, in welchem der Redende leben muss, aus dem er heraus reden muss, was nicht bloß geschieht, wenn jemand in der Sache lebt, sondern wozu gehört, dass die Sache in ihm lebt. Dann ist das Reden das Ausschütten mit vollen Händen und das Hören ein Nehmen mit weit ausgebreitetem Schoß. Insofern kann man auch eine Freude am Reden haben, indem dasselbe nichts anderes als die Offenbarung der Liebe ist, die von uns nicht gemacht, sondern von uns als solche erkannt ist, dass sie uns gegeben worden, um sie wieder zu geben
(Böttcher 1965, S. 27).
Fundraising
Johann Hinrich Wichern kombinierte in seiner Person Leidenschaft und nüchterne Erkenntnis des Machbaren und Notwendigen. Er konnte Rauhes Haus und Innere Mission nicht ohne logistische Basis und nicht ohne finanzielle Unterstützung aufbauen. Deshalb gilt Wichern auch als Pionier im kirchlichen bzw. sozial-karitativen Spendenmarketing bzw. Fundraising.3