Jugend- und Studienzeit sowie als Journalist in der DDR
Kindheit und Jugendzeit in Bitterfeld bzw. Mitteldeutschland
Günter F. Thiele wurde am 12. Februar 1934 in Bitterfeld (heute Bitterfeld-Wolfen in Sachsen-Anhalt) im mitteldeutschen Industrie- und Kohlerevier geboren. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges 1945 kam die von Kriegs- und Umweltschäden stark betroffene Stadt an die Sowjetische Besatzungszone (SBZ), die einige Jahre später (1949) zur DDR wurde.
Der junge Thiele bestand sein Abitur 1953 an der Städtischen Oberschule für Jungen, dem heutigen Walther-Rathenau-Gymnasium ebenfalls in Bitterfeld (Thiele 2001, S. 1). 1953 war das Jahr der Unruhen des 17. Junis. Jugendliche und Schüler – u. a. „der 15-jährige Oberschüler Klaus Staeck – später ein bekannter Graphiker (…) und ehemaliger Präsident der Akademie der Künste in Berlin“ – spielten dabei eine wichtige Rolle (Jugendopposition 2018).
Die Unruhen des 17. Junis 1953 erfassen die gesamte DDR. Bitterfeld, eine alte sozialdemokratische Hochburg und Zentrum der Chemieindustrie der DDR, wird an diesem Tag zu einer der wichtigsten Städte des Volksaufstands. (…) Im Laufe des Tages versammeln sich auf dem zentralen Platz der Jugend und den nahe gelegenen Binnengartenwiesen etwa 30.000 bis 50.000 Menschen – mehr als Bitterfeld Einwohner zählt. Viele der Demonstranten kommen aus den großen Betrieben der Umgebung, wie zum Beispiel aus dem Agfa-Filmwerk in Wolfen. (…) Schüler sprechen mit Sowjetsoldaten (…)
(Jugendopposition 2018).
Erste Berufstätigkeit und Studium
1953/54 arbeitete Günter Thiele ein Jahr lang als Hilfsschmelzer in den Kupfer- und Bleihütten in Eisleben und Hettstedt (Thiele 2001, S. 1). Eine Tätigkeit in der „sozialistischen Produktion“ als Zwischenschritt zur akademischen Ausbildung bzw. für einen späteren Beruf in der „Intelligenz“ war im „Arbeiter- und Bauernstaat“ DDR nicht unüblich und meistens auch notwendig.1 Von dort wurde er zum Studium an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg „delegiert“ und studierte dort Hauptfach Germanistik, Nebenfach Psychologie. Hörte außerdem Vorlesungen in Philosophie und Geschichte.
Günter Thiele besuchte während dieser Zeit auch Lehrveranstaltungen in Germanistik und Journalistik/Publizistik an der Karl-Marx-Universität Leipzig. Er schloss sein Studium mit dem Staatsexamen (Diplom) der Philosophischen Fakultät und einer Arbeit über Robert Prutz‘ soziale Romane bei Prof. Dr. R. (sic!) Hadermann (vermutlich Ernst Hadermann – T.L.) ab.
(Bentele 2001)
Thieles Diplomarbeitsbetreuer Prof. Hadermann an der Universität in Halle (Saale) war eine Art Koryphäe in der DDR und Prodekan der Fakultät. Als Kriegsgefangener 1941 zum Widerständler gereift2 und fachlich Kompetenter war er zu einer Persönlichkeit in der SBZ/DDR mit guten Kontakten geworden3, geriet aber Anfang der 1960er-Jahre selbst in Konflikt mit der Obrigkeit.4
Während des Germanistik-Studiums machte Thiele journalistische Praktika bei der Tageszeitung „Freiheit“ im Bezirk Halle, die seit 1990 als „Mitteldeutsche Zeitung“ reüssiert, bei Radio DDR, Landessender Halle oder als freier Mitarbeiter für die Sendung „Stadtreporter“. In dieser Zeit lernt Thiele auch Siegfried Schmidt-Joos als Studienkollegen kennen, der 1936 in Gotha geboren worden war. Er verließ die DDR schon 1957 und begann als Musikkritiker sowie Jazz- und Rock-Experte im Westen eine beachtenswerte musikjournalistische Karriere. (Schmidt-Joos 2016, S. 7ff.) Auch Günter Thiele, musikalisch durch seinen Großvater mütterlicherseits offenbar erblich vorbelastet, spielte einige Jahre lang Klarinette.
Als junger Journalist in der DDR
Nach Abschluss seines Studiums in Halle-Wittenberg und Leipzig, also ab November 1958, arbeitete Günter Thiele zunächst „als Redaktionsassistent, Jungredakteur und Reporter bei Radio DDR, Sender Leipzig vor allem in der Kulturredaktion“ (Thiele 2001). Wenig ist über seine damalige Tätigkeit bekannt, deshalb beschränken wir uns hier auf eine pauschale Charakterisierung der rundfunk- und kulturpolitischen Situation.
Nach einer Zentralisierung des DDR-Rundfunks 1952 in der „Hauptstadt der DDR“ Berlin hatte es ab 1953 auch wieder Regionalisierungstendenzen gegeben, zumal die „wichtigsten Klangkörper und ein erheblicher Teil der Hörspiel- und Musikproduktion“ ohnehin in Leipzig verblieben waren. Ab 1956 wurden aus Leipzig mehrstündige Regionalprogramme gesendet, ab 1958 morgens und abends. (MDR-Geschichte)5
Als Kulturjournalist war Günter Thiele nicht nur von der Informations- und Medienpolitik, sondern auch von der Kulturpolitik der DDR und ihrer Staatspartei SED besonders betroffen. Generell kann gesagt werden, dass die journalistischen Spielräume in der Kulturberichterstattung wohl größer waren als bei politischen Kernthemen.
Der Volksaufstand von 1953 und seine politische Bewältigung durch die SED hatten auch dazu geführt, dass die anfangs des Jahrzehnts aufgestellten kulturellen Prämissen weniger rigide verfolgt wurden. Allerdings leiteten das 32. Plenum des SED-Zentralkomitees im Juli 1957 und die SED-Kulturkonferenz im Herbst 1957 eine Rückkehr zu einem konsequenteren Parteikurs ein. In diesen Prozess war auch Günter Thieles journalistische Arbeit ab 1958 gestellt.
Zur Kulturpolitik in der damaligen DDR
In der Kulturszene der DDR der 1950er-Jahre kamen durchaus kultureller Pluralismus sowie Austausch zwischen Ost- und Westdeutschland vor. Daran konnten auch die DDR-Medien nicht einfach vorbeigehen, wenngleich sie sich damit vor allem ab 1957 zunehmend schwerer taten.
Das folgende Zitat u.a. über einen – im Rundfunk schließlich nicht gesendeten – Vortrag des Leipziger Literaturprofessors Hans Mayer zeigt aber auch, dass die SED-Parteilinie nicht ohne Auseinandersetzungen und Kompromisse durchgesetzt werden konnte. Die oben genannten SED-Tagungen 1957 hätten klargestellt, (…)
(…) dass ‚spätbürgerlich imperialistische und sozialistische ästhetische Konzeptionen‘ unvereinbar seien. Hans Mayers Rundfunkvortrag hätte signalisiert, so die offizielle Selbstkritik des Rundfunks, ‚dass beide Konzeptionen sich nicht nur zu vermischen drohten, sondern die letzte zugunsten der ersten mehr und mehr aufgegeben wurde.‘ Im Vordergrund stand nun wieder die Auseinandersetzung mit antihumanistischen und antimarxistischen Kräften Westdeutschlands, die versuchen, die Spaltung Deutschlands auf dem Gebiet der Kultur weiter zu vertiefen und mit Hilfe der Amerikanisierung der deutschen Kultur die DDR von dieser Seite her aufzuweichen.
(Pietrzynski 2004)
Der SED-Forderung ab 1958 (V. Parteitag), insbesondere der „Bitterfelder Konferenz“ und des Kulturministeriums über den „Aufbau einer Volkskultur in der DDR“ 1959, die Arbeiter stärker zu kulturellen Akteuren zu machen, konnten viele Bürger und Journalisten durchaus etwas abgewinnen. Die erwähnten Tagungen (…)
(…) riefen mit ihrer Forderung, die Arbeiterklasse solle Akteur der sozialistischen Kulturrevolution werden, eine massenkulturelle Bewegung ins Leben, deren Zielstellung, die passive Konsumentenhaltung breiter Bevölkerungskreise gegenüber der Literatur zu überwinden, zwar niemals wirklich erreicht wurde, die aber eine der Grundlagen für die großen öffentlichen Literaturdebatten der sechziger Jahren waren und auch Auswirkungen auf die Literaturprogramme hatten.
(Pietrzynski 2004)
Um es mit der Literatin Christa Wolf zu sagen, waren die 1950er-Jahre eine Zeit von „Diskussionen“ und „Dogmatismus“:
Das waren die fünfziger Jahre auch: eine Zeit heftiger Diskussionen. Dogmatismus? Ja. Wenn du die Zeitungen jener Jahre nachliest, dir können die Haare zu Berge stehen. Man muss sich ja vorstellen, dass die Verdikte gegen Künstler und Kunstwerke, die in der Zeitung standen, damals ernst genommen wurden, oft auch von den Betroffenen selbst, und für die Beschuldigten Folgen hatten. Andererseits gab es Versammlungen, in denen die Leute sagten, womit sie nicht einverstanden waren. Und wir Jungen waren in alles verwickelt. Wir nahmen Anteil, es war unsere Sache. Wir waren in einer Stimmung übersteigerter Intensität, alles, was hier und heute geschah, war entscheidend, das Richtige musste sich bald und vollkommen durchsetzen, wir würden den Sozialismus, den Marx gemeint hatte, noch erleben. (…) eine Art Heilsgewissheit, wenige Jahre lang.
(Wolf 1989; zitiert nach: Pietrzynski 2004)
Politischer oder kultureller Dogmatismus war des Günter Thieles Sache nicht.
Anmerkungen
1 Später, nach Gründung der Nationalen Volksarmee und Einführung der Wehrpflicht in der DDR, übernahm diese Funktion dann ein „freiwillig längerer“ Wehrdienst (in der Regel drei Jahre).
2 Ernst Hadermann (1896-1968) war Mitbegründer des Nationalkomitees „Freies Deutschland“. U.a.: „Gemeinsam mit dem Schriftsteller Erich Weinert und dem späteren SED-Generalsekretär Walter Ulbricht verfasste er die – durchaus wirksame – Flugschrift ‚Wie ist der Krieg zu beenden‘. Gemeinsam mit Ulbricht wurde er zur Lautsprecherpropaganda an der Front eingesetzt. Ab 1943 führte er mit Wilhelm Pieck und Johannes R. Becher Propagandaeinsätze in den Lagern der gefangenen Stalingradarmee durch. In Abwesenheit verurteilte ihn das Wehrmachtsgericht in Torgau dafür zum Tode.“ (https://www.catalogus-professorum-halensis.de/hadermannernst.html Aber auch: http://www.verwaltung.uni-halle.de/DEZERN1/PRESSE/Rede%20Prof%20Berg-ueber-Prof%20Lemmer.pdf S. 3)
3 „1945 wurde Hadermann zum stellvertretenden Chef der Deutschen Zentralverwaltung für Volksbildung, dann zum Leiter der Schulabteilung in der DZV für Volksbildung in der SBZ ernannt. 1948 schied er aus und erhielt eine Professur mit Lehrstuhl für Germanistik an der Landeshochschule bzw. der neugegründeten Pädagogischen Hochschule in Potsdam. (…) Bereits 1952 erhoffte sich die Philosophische Fakultät die Berufung Hadermanns an die Universität Halle. Als Gründe nannte sie seine ausgezeichneten organisatorischen Fähigkeiten (in Potsdam gründete er 13 Institute), solide Publikationen zur Literatur des 19. Jahrhunderts sowie seine Griechischkenntnisse. Das Staatssekretariat für Hoch- und Fachschulwesen genehmigte die Versetzung und Ernennung zum Direktor des Germanistischen Instituts 1955 (als Nachfolger für Ferdinand Josef Schneider). Ab 1957 war Hadermann, der 1956 den Vaterländischen Verdienstorden in Bronze erhielt, Prodekan der Philosophischen Fakultät.“ (Quellen siehe vorherige Fußnote)
4 „Im August 1961 geriet Hadermann, dessen ‚individualistische‘ Einstellung bereits in Potsdam kritisiert wurde, in Konflikt mit den Parteistellen der Universität. Die SED warf ihm Instinktlosigkeit vor, da er einen Antrag zum Besuch seines Bruders in der Bundesrepublik gestellt hatte. Nach mehreren Aussprachen brach Hadermann zusammen und kündigte am 16. September 1961.“ (Quellen siehe vorherige Fußnote)
5 Zur damaligen Leipziger Stadtgeschichte siehe u. a.: https://www.leipzig.de/wirtschaft-und-wissenschaft/bibliotheken-und-archive/stadtarchiv/chronik/ http://www.leipzig-lexikon.de/chronik/chr1900.htm