Politisch-ideologisch ambitionierte PR-Verständnisse (I)
Zeitgeschichtlich einflussreicher Autor über PR: Gross
Den Diskurs der 1950er-Jahre über PR hat neben Hundhausen vor allem Herbert Gross (1907-1976) geprägt. Gross war ein sehr umtriebiger und ambitionierter Beobachter der Weltwirtschaft, Publizist (u. a. Gründer des Handelsblattes), Populisator von (US-amerikanischen) Innovationen – darunter des Marketings – und nicht zuletzt Vertrauter von Wirtschafts(„wunder“)minister Ludwig Erhard. In diese Reihe ordnet sich auch Gross‘ Interesse für Public Relations – bei ihm unter dem Begriff der „Meinungspflege“ – ein.
Kann Hundhausen bezüglich der PR – nach Meinung von Kunczik/Szyszka – eher eine „organisationsbezogene Position“ attestiert werden, so vertrat Gross eine „gesellschaftsorientierte“. „Hundhausen ging es um die Existenzbedingungen einer Unternehmung, nicht (wie bei Gross – T.L.) um einen Nachweis von Interessenidentität als gesellschaftspolitische Größe.“ (Kunczik/Szyszka 2015, S. 128 und 130)
Gross nahm einen Kontrast wahr: zwischen der sozialen und weltanschaulichen Zerrissenheit Nachkriegsdeutschlands einerseits und der Stabilität der US-amerikanischen Gesellschaft und Loyalität ihrer Bevölkerung zum Unternehmertum über Schichtengrenzen hinweg andererseits. Er zog daraus die Schlussfolgerung, dem Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell der Marktwirtschaft zum Sieg zu verhelfen – mittels PR (siehe den entsprechenden Beitrag im PR-Museum, aber auch Szyszka 2015, S. 498 und 503, und Kunczik 1993, S. 6 und 15).
PR für die (soziale) Marktwirtschaft
Gesellschafts- und wirtschaftspolitische Ausrichtung von PR
Mit seiner Auffassung traf Gross durchaus den Nerv einer Reihe damaliger Akteure der jungen Bundesrepublik. Zwar meint Szyszka (2015, S. 503) aus heutiger Sicht unter Berufung auf andere Autoren, die soziale Marktwirtschaft sei „bald zum Selbstläufer“ geworden und habe „im Grunde keiner PR-Unterstützung bedurft“. Zur Macht der Realität auch Nöthe:
Ab Mitte 1952 setzte eine stetige Aufwärtsentwicklung ein, die einen – wenn auch zunächst nur recht langsamen – Abbau der Arbeitslosigkeit und Lohnsteigerungen mit sich brachte. Unter den Bedingungen der kontinuierlichen ökonomischen Prosperität erfolgte die soziale und politische Integration: Die soziale Marktwirtschaft wurde nicht mehr in Frage gestellt; kritische Tendenzen und sozialistisches Engagement gingen zurück bzw. wurden von den einsetzenden ‚Konsumwellen‘ überrollt – die Mehrheit der Bevölkerung stand nun hinter dem Motto ‚Keine Experimente‘. (…) Verknüpft mit der politischen und militärischen Westintegration der Bundesrepublik war die ökonomische Verflechtung; der Außenhandel – insbesondere mit den Vereinigten Staaten – stieg an und wurde zum Motor der weiteren wirtschaftlichen Expansion.
(Nöthe 1994, S. 106f.)
Dennoch bleibt für unser Thema mindestens fünferlei (a, b, c, d, e) festzuhalten. Wir fangen mit a) an und setzen die weiteren Punkte über die nächsten Seiten fort:
a) Die Selbstverständnisdebatten der PR und damit ihr überwiegendes (bewusst reflektiertes) Funktionsverständnis in den 1950er-Jahren waren gesellschafts- und wirtschaftspolitisch ausgerichtet:
(…) die ‚neoliberale Idee der Marktwirtschaft, Sozialpartnerschaft und Interessenharmonisierung‘ (Scharf 1971, S. 176) schien mit Bernays‘ ‚engineering of consent‘ kompatibel und lieferte die Basis für das Selbstverständnis einer öffentlichen Aufgabe durch die Schaffung von Einvernehmlichkeit zwischen Organisations- und Gesellschaftsinteressen (…). Eine Definition von PR-Arbeit als ‚Summe derjenigen Maßnahmen und Verhaltensweisen der Unternehmer, welche in der Öffentlichkeit das Bewusstsein einer allgemeinen Interessenidentität mit der Marktwirtschaft erzeugen‘ (Gross 1951, S. 22), bringt dies zum Ausdruck.
(Szyszka 2015, S. 503; zu Gross vgl. auch Tebrake 2019, S. 141ff.)
Eher PR für die (freie) Marktwirtschaft bzw. „Unternehmenswirtschaft“
Heute wird Gross häufig als lauteste Stimme von PR für die soziale Marktwirtschaft interpretiert. Liest man seinen Text allerdings genau, vertritt er gar nicht das, was heute unter „sozialer Marktwirtschaft“ verstanden wird. Seine Positionierung zwischen freier und sozialer Marktwirtschaft bleibt schwammig, er neigt in einigen Punkten sogar eher ersterer Form zu. Er propagierte die „Verschmelzung des Sozialen und des Leistungsdenkens in der Institution des Betriebes“.
Die vormalige deutsche und europäische Wirtschafts- und Staatstradition (Sozialstaat etc.) charakterisierte er als Irrweg. Diese Geringschätzung europäischer Tradition musste als Angriff auf Sozialstaat und Gewerkschaften verstanden werden, ein kritischer Rezensent bemerkte denn auch eine „deutlich aggressive(r) Tendenz gegen die Existenz außerbetrieblicher Instanzen der Sozialpolitik“. Auch sei eine Rückverlagerung der sozialen Leistungen in die Unternehmen im seinerzeitigen Westdeutschland illusorisch, weil mehr als ein Viertel der Bevölkerung (Rentner, Heimatvertriebene, Arbeitslose …) auf soziale Fürsorge angewiesen war. (Schelsky 1952, S. 166f.)