Kritische Würdigung: propagandistische Züge

Flottenkampagne mit Übergängen zur Propaganda

Abb.: Alfred von Tirpitz beim Verlassen des Reichsmarineamts. Ca. 1915. Quelle: Wikimedia Commons, Public Domain bzw. gemeinfrei.

Die problematisierten PR-ethischen und demokratischen Defizite sowie gesellschaftspolitischen und internationalen Folgen liefern mehrere Argumente, der Flottenkampagne propagandistische Züge zuzusprechen. Insbesondere die ausgeprägte politisch-militärische Zweckbestimmung sowie die große Rolle militärischer („Militarismus“1) und obrigkeitsstaatlicher Strukturen (Kaiser, Reichsmarineamt etc.) begünstigten die Ausübung propagandistischer Funktionen und Teile des Kommunikationsstils entsprachen propagandistischen Darstellungsweisen.

Eine konkretere Betrachtung hängt von den zugrunde gelegten Verständnissen von Propaganda sowie ihrem Verhältnis zu PR/Öffentlichkeitsarbeit ab2 – kann hier aber nicht in der nötigen Differenzierung geleistet werden.

Beispielaspekte: Gefahren analytisch-konzeptionell unzureichender sowie übereifriger bzw. sektoral-bornierter Kommunikation

Damit ist auch die ethische Problemzone des Verhältnisses zwischen Entscheidern, Auftraggebern auf der einen und Kommunikatoren auf der anderen Seite angesprochen. Und es tangiert den Ermessenspielraum der Kommunikationsfachleute, wie sie einen Auftrag ausführen, und das Ausmaß ihrer Verantwortlichkeit für die Resultate ihrer Kommunikationsanstrengungen.3 Dass England generell unterschätzt wurde, stellt ein analytisches Manko dar, das eher bei der politisch-militärischen Führung zu verorten wäre. Dass die Flottenkampagne „das ihre (tat), um im Inselreich jegliche Unklarheit über die Ziele der deutschen Flottenrüstung auszuschließen“ (Canis 1999, S. 337), ist auch den Kommunikatoren anzulasten.

Zu große persönliche Involviertheit in das Thema bzw. fundamentalistischer Übereifer bei der Überzeugung anderer oder Gier nach professionellem Erfolg können möglicherweise einer seriösen, abgewogenen und gesellschaftlich verantwortlichen Kampagnenführung abträglich sein. Reichsmarineamtschef von Tirpitz werden auch diesbezügliche Schwächen nachgesagt:

Man misstraute ihm. Er galt für intrigant, für unzuverlässig. Er galt für unwahrhaft. (…) Der Eifer um und für die Flotte verzehrte ihn. Tirpitz galt unter Kameraden und Kollegen für unverträglich.

(Bülow, zit. nach Kunczik 1997, S. 111; Rechtschreibung modernisiert)4

Auch unabhängig von persönlichen Eigenarten bestimmter Akteure – hier wäre noch einmal Wilhelm II. zu nennen – könnte man meinen, dass die Flotten-Kommunikation fast schon zu übereifrig und zu einem späteren Zeitpunkt auch mit den falschen Intentionen betrieben wurde – sie schoss über ihr Ziel hinaus und löste ein gefährliches maritimes Wettrüsten mit England aus.5

Autor(en): T.L.R.-M.U.C.K.L.M.M.O.

Anmerkungen

1 Vgl. dazu u.a. Brockhaus-Enzyklopädie 1991, Bd. 14, S. 605f. und Mickel 1986, S. 295-300.

2 Vgl. u.a. Bentele 1999 und Liebert 2012.

3 Vgl. dazu auch Liebert 2008, S. 39-41.

4 Allerdings kann sich solche Kritik auch aus den Transparenz- und Mitwirkungsansprüchen von Tirpitz an die Truppe erklären. Durch die Besichtigungen, z.B. von Schulklassen, auf den Schiffen fühlten sich die Besatzungen beeinträchtigt. Vgl. von Bredow 1978, S. 702.

5 Vgl. Deist 1976, Baumgart 1986 und Bollenbach 2009.