Kaisertum unter den Bedingungen moderner Kommunikation
Kommunikationswissenschaftliche Fallstudie von Glaab über Wilhelm II.
Insbesondere der letzte deutsche Kaiser Wilhelm II. war von Chancen und Risiken der sich herausbildenden modernen Massenkommunikation betroffen. Dies arbeitet insbesondere ein Fachaufsatz von Glaab 2008 heraus. Wilhelm kann – nach Peter Schamoni 2001 – als „ein ‚Medienstar‘ seiner Zeit“ (zit. nach Glaab 2008, S. 211) bezeichnet werden.
Er war im neuen Massenmedium Presse omnipräsent und in verschiedene mediale Skandale involviert. Wilhelm liebte es, in der Öffentlichkeit zu stehen, sich auf Bildern zu sehen, in Zeitungen über sich zu lesen und Filmsequenzen über sich anzuschauen.
(Glaab 2008, S. 211)
War er aber auch ein „Medienkaiser“? Also einer, der sich – nach Glaab 2008, S. 200 – „erstens der Bedeutung der Presse für die öffentliche Meinung bewusst war, zweitens die spezifischen Regeln des Massenmediums seiner Zeit erkannte und die Presse drittens für seine eigenen Zwecke zu nutzten wusste“? Zwar sei sich Wilhelm II. – so Glaab weiter – über das Potential der Presse im Klaren gewesen und habe auch Versuche unternommen, die öffentliche Meinung mit Hilfe der Medien zu beeinflussen. „Er verstand aber die Wirkungsmechanismen der Massenkommunikation nicht hinreichend bzw. wollte oder konnte sich nicht an sie anpassen.“ (S. 200)
Stärken: Wilhelm II. als Medienakteur
Ansätze für „medienkaiserliche“ Qualitäten Wilhelm II.:
a) Am ehesten „Medienkaiser“ war er bei der Nutzung massenmedialer Möglichkeiten für Repräsentation und Symbolpolitik. Unter Berufung auf Nicolaus Sombart 1996 ist davon auszugehen, dass – so Glaab 2008, S. 203 – Wilhelm II. die „Bedeutung von Ritualen und Symbolen als funktionale Mittel zur nationalen Einigung der deutschen Einzelstaaten und zur Stabilisierung seiner Dynastie“ erkannt habe. Glaab weiter:
Wilhelms Reden und Reisen waren demnach kein leerer Pomp oder Indiz für seine Irrationalität. Sie waren vielmehr identifikations- und sinnstiftende Rituale und sind damit Indikator für Wilhelms modernes und rationales Denken. Seine Reden, Reisen und Versuche der ‚invention of tradition‘ kann man als moderne PR-Kampagne zur Etablierung seiner politischen Vorstellungen interpretieren. Sombarts Ansicht nach erreichte Wilhelm mit diesen Mitteln eine ‚zweite Reichsgründung‘, die aus den Einwohnern Bayerns, Sachsens und Preußens endgültig Deutsche machte.
(Glaab 2008, S. 203, die auf Sombart 1996, S. 26, 54, 86 und 114 zurückgreift)
b) Wilhelm II. beherrschte gut den so genannten „Königsmechanismus“, ein System, in dem – wie Glaab 2008 mit Norbert Elias 1939 erklärt – die Macht des Herrschers darauf basiere, die Spannungen zwischen den um politischen Einfluss rivalisierenden sozialen Gruppen zu nutzen. Die empirische Studie des Kaiser-Bibliografen John C. G. Röhl 1995 habe belegt, wie der Kaiser „die gesellschaftlichen und politischen Gruppen, die um seine Sympathie buhlten“ (…) „kontrollierte und balancierte“ und wie „deren Konkurrenz untereinander eine effektive Opposition gegen den Herrscher erschwerte“. (Zit. nach Glaab 2008, S. 202)
c) Verschiedenste Zeitgenossen und wissenschaftliche Autoren bestätigen, dass Wilhelm II. in mündlichen Reden vor der (in der Regel wohlgesonnenen bis jubelnden) Menge durchaus zu begeistern wusste: So werden seine „lebhafte frische Art“ oder die „Schlagfertigkeit in der Entgegnung“ gerühmt. (Zit. nach Glaab 2008, S. 209)
Dazu passt auch ein Rezensionsurteil über eine Arbeit zu Wilhelms Rednertätigkeit:
Berüchtigte Manifestationen wie Umsturzrede, Handlangerrede und Hunnenrede werden in den jahrzehntelangen Redestrom des hyperaktiven Monarchen eingebettet, wodurch die mediale Ubiquität Wilhelms II. erkennbar wird, der zu fast allen Streitfragen der Zeit oratorisch Stellung bezog. Deutlich wird gleichzeitig das Schillernde seiner politischen Sprache, die ihn schon für Zeitgenossen mal als ultraorthodoxen Reaktionär, mal als liberalen Avantgardisten erscheinen ließ.
(Domeier 2010)
Er war damit eher ein Kommunikator des authentischen Augenblicks, der Situation – gedruckt sahen seine Äußerungen häufig nicht mehr so überzeugend aus und wirkten nicht selten kontraproduktiv. „Der Kaiser erkannte offenbar (…) nicht, dass wirkmächtige Reden nicht automatisch wirkmächtige Publikationen in der Presse waren.“ (Glaab 2008, S. 209)
Schwächen: Wilhelm II. als Medienakteur
Und damit zu zentralen „medialen Schwächen“ von Wilhelm II. Wobei nur d) eine wirklich antiquierte Auffassung repräsentiert – Wilhelms Antworten auf e) und f) werden zwar heute häufig und kurzschlüssig aus instrumentell-erfolgsorientierter Perspektive als naiv bezeichnet, stellen aber auf den zweiten Blick und unter besonderer Berücksichtigung von Authentizität und Ganzheitlichkeit der Kommunikation durchaus alternative Kommunikationsverständnisse dar.
d) Der letzte deutsche Kaiser trat der Presse – als seinerzeit wichtigstem Massenmedium – bzw. den Journalisten „äußerst spontan und stimmungsabhängig“ gegenüber. „Pressestrategische Gedanken, wie zum Beispiel Überlegungen, in welcher Form Informationen präsentiert werden sollten, um die Journalisten dazu zu bewegen, in der intendierten Weise zu berichten, schien sich der Kaiser nicht zu machen.“ (Glaab 2008, S. 211)
e) Wilhelm hatte kein Gespür für die Unterschiedlichkeit bestimmter Öffentlichkeitsarenen. Bei ihm dominierte die Senderperspektive: Kaiser war für ihn immer und überall, omnipotent, Kaiser. Dass der „Kaiser“ möglicherweise bezugsgruppenspezifisch unterschiedlich kommuniziert werden müsste, war mit der kaiserlichen Allmachtsvorstellung unvereinbar.
Zweifellos ist es Wilhelm II. zeitlebens nicht gelungen, zwischen verschiedenen Öffentlichkeiten zu unterscheiden und ihre Verflechtungen zu bedenken. Nie kam es ihm in den Sinn, dass seine Reden über die Herrlichkeit der Hohenzollern auf brandenburgischen Provinzialdiners in Bayern als anachronistischer Partikularismus, in Paris, London und Moskau überdies als Beleg für die imperialen Phantasien des Deutschen Reiches verstanden werden könnten. Offenkundig war Wilhelm II. eben doch kein ‚Medienmonarch‘. Als Redner führte er vielmehr aller Welt vor Augen, wie schlecht das preußisch-deutsche Kaisertum mit dem beginnenden Massenmedienzeitalter korrespondierte und an welche Grenzen eine traditionale Monarchie stieß, wenn sie charismatisch-populistisch-alltägliche Politikstile aufzunehmen versuchte.
(Domeier 2010)
f) Der Kaiser vermochte nicht zwischen medialer Oralität und Literalität bzw. zwischen Authentizität und Offizialität als Modi professioneller Kommunikation zu unterscheiden. Er selber verstand dies aber nicht etwa als kommunikativ-politische Schwäche, sondern als „künstlerische Stärke“. Dies wird in einer Rezension einer Arbeit über seine politischen Reden auf den Punkt gebracht:
‚Es gilt das gesprochene Wort‘. Diese bis heute gebrauchte Floskel des Sprachmarketings führt zum Kernproblem Wilhelms II. als politischem Redner: der Improvisation. Jahrzehntelang befeuerten nach seinen Reden offizielle und offiziöse Dementis und Gegendementis heftige Pressedebatten. Der Streit um die Authentizität des Gesagten und die Gültigkeit von Redeversionen trug nicht allein dazu bei, die ohnehin meist kontroversen Redeinhalte zu desavouieren und die politischen Absichten des Monarchen zu vereiteln, sondern zog immer wieder dessen politische Kompetenz in Zweifel. (…) Mit Blick auf den politischen Redner Wilhelm II. bleibt so etwa sein Selbstverständnis als Künstler (eine Ähnlichkeit mit dem oratorischen Selbstbild Adolf Hitlers) ausgeblendet.
(Domeier 2010)
Alles in allem: Wilhelm II. konnte als Monarch eines zunehmend aus der Zeit fallenden Obrigkeitsstaates letztlich nicht verstehen, dass die „sich immer klarer ausbildenden Regeln des massenmedialen Systems“ und eine „von Wählerstimmen abhängige Parlamentspolitik“ zusammengehörten. „Der politische Entscheidungsprozess wurde zunehmend vom öffentlichen Diskurs beeinflusst. Der typische Kabinettspolitiker der Neuzeit entwickelte sich zum modernen Politiker, der medialisierte Politik zu betreiben wusste. Einige Politiker des deutschen Kaiserreichs taten sich mit diesen modernen Veränderungen schwer.“ Auch Wilhelm war „zerrissen zwischen Tradition und Moderne“ und die Reichsleitung vollführte einen „Zickzackkurs“ im Umgang mit der Presse. (Glaab 2008, S. 212)