Kritische Würdigung: Folgen

Gesellschaftspolitische und internationale Folgen des Kommunikationsprogrammes

Bei aller professionellen Konzentration auf die systematische und strategische Vorgehensweise dürfen die gesellschaftspolitischen Konsequenzen der Kampagne nicht außer Acht gelassen werden. Durch die Flottenpolitik und den Tirpitz-Plan entstand eine Rivalität zwischen Deutschland und England, welche für den folgenden Ausbruch des Ersten Weltkrieges den Boden mit vorbereitete. Das Reich war dabei über die Zeit nicht nur Treiber, sondern auch Getriebener.1 Deutschland hatte mit dem Tirpitz-Plan falsch gepokert. Das Kalkül, andere Staaten würden Deutschland aufgrund einer starken Flotte nicht angreifen und England könne als Hegemonialmacht beerbt werden, erwies sich als Fehlkalkulation. Die Flottenpolitik brachte „Deutschland in die außenpolitische Isolierung, statt das Tor zur Weltgeltung zu öffnen“ (Epkenhans 1991, S. IX, vgl. auch S. 1). Innenpolitisch ging dem eine verstärkte Militarisierung der deutschen Gesellschaft voraus.

Dass das Kommunikationsprogramm der Förderung von militärischer Stärke und Rüstungswirtschaft diente, ist problematisierbar. Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass Außenpolitik und Ethik der internationalen Beziehungen in einer Epoche starken Nationalbewusstseins teilweise anderen Regeln und Werten folgten als beispielsweise in der heutigen Europäischen Union. Allerdings bleibt umgekehrt zu konstatieren, dass es mit der Sozialdemokratie seinerzeit auch einen prinzipiellen und öffentlich wahrnehmbaren Gegner der Aufrüstung gab – also sehr wohl politische Alternativen bekannt waren.2 In den Reichstagsdebatten von 1898 und 1900 sei es allein der Sozialdemokrat August Bebel gewesen, „der auf die außenpolitischen Gefahren der Flottenrüstung aufmerksam machte. Er sah einen Rüstungswettlauf beginnen, der Komplikationen hauptsächlich für Deutschland heraufbeschwöre, weil es der englischen Schiffbaukonkurrenz nicht gewachsen sein werde“ (Canis 1999, S. 336).

Wirkungschancen und -risiken einer Kampagne: erwünschte und unerwünschte Folgen

Eine Ironie der Geschichte besteht darin, dass die Flottenkampagne Kriegsakzeptanz und gar -begeisterung in der deutschen Bevölkerung gefördert haben – zugleich aber den Kriegsgegner England zu größeren Anstrengungen anstachelten. Und schließlich versagte die deutsche Flotte, auf deren Ausbau die Kampagne zielte, im Krieg:

Die Flotte erfüllte in diesem Krieg […] keineswegs den Zweck, den ihre Schöpfer ihr zugedacht hatten: Sie lag mehr oder weniger nutzlos im Hafen und versenkte sich am Ende schließlich selbst

(Epkenhans 1991, S. 407).

Zwar kann von den damals denkenden und handelnden Akteuren kein Kenntnisstand verlangt werden, der erst retrospektiv zu erlangen ist.3 Allerdings stellt es eine fundamentale Aufgabe verantwortungsvoller Akteure, insbesondere der Politik, dar, die Folgen eines bestimmten Vorgehens abzuschätzen und in Alternativen zu denken. Dazu gehört, die (ggf. auch Eigen-) Dynamik öffentlicher und massenmedialer Meinungsbildungs- und Mobilisierungsprozesse einzukalkulieren, worüber freilich damals noch wenig Erfahrungen vorlagen.

Autor(en): T.L.R.-M.U.C.K.L.M.M.O.

Anmerkungen

1 Mit dem Nachrüstungsflottengesetz von 1900 kristallisierte sich Tirpitz´ Konzept einer ‚Risiko-Flotte‘ heraus, welches eine Neutralisierung der englischen Flotte vorsah, sodass England einen Angriff auf die aufsteigende Seemacht des Deutschen Reiches nicht riskieren würde (vgl. Cowles 1963, S. 233). Diese Entwicklungen blieben England natürlich nicht verborgen, welches mit Misstrauen reagierte. Anfang 1905 begann im Vereinigten Königreich eine neue Ära des Kriegsschiffbaus (vgl. Bollenbach 2009, S. 27). Darauf antwortete das Deutsche Reich ebenfalls mit einem forcierten Bau der Kriegsflotte. Um mit den fortschrittlichen englischen Super-Schlachtschiffen mithalten zu können, versuchte Tirpitz mit den Gesetzesnovellen der Jahre 1906, 1908 und 1912 das Ausbautempo der deutschen Flotte maßgeblich zu erhöhen (vgl. Canis 2011, S. 181). Im Jahre 1914 gab England im Vergleich zum Deutschen Kaiserreich die doppelte Menge an Finanzmitteln für seine Flotte aus (vgl. Baumgart 1986, S. 60).

2 Die Sozialdemokratie war allerdings kein monolithischer Block. Selbst in ihren Kreisen gab es auch Verständnis für die Flottenpolitik. Vgl. Nottmeier 2004, S. 188.

3 Nach Jahrhunderte langer Erfahrung bildete der Krieg ein Mittel der Politik. Bei der Abwägung der Risiken von militärischen Aktionen und der Vorbereitung auf diese gingen die Menschen zwangsläufig von den bis dahin bekannten Kriegen aus. Für die deutsche Einschätzung schließlich verhängnisvoll musste sein, dass am Beginn der Reichsgründung und Nationenbildung ein siegreicher Feldzug gegen Frankreich stand. Generell wurden aber mögliche Dimensionen und Auswirkungen eines etwaigen künftigen Krieges – faktisch dann des Ersten Weltkrieges –, seine Totalität und Folgen für Hinterland und gesamte Gesellschaft, wesentlich unterschätzt. (T.L.)