Kritische Würdigung: professioneller Wert und ethische Defizite

Wert der Kampagne für die PR-Geschichte

Die systematische Mobilisierung der Gesellschaft durch die Flottenkampagne stellte eine maßgebliche Weiterentwicklung der Öffentlichkeitsarbeit dar und hob sich deutlich von früheren oder zeitgleichen Bewegungen ab. Obzwar das Kommunikationsprogramm von Intentionen und Bedingungen eines (prinzipiell undemokratischen, aber mit sektoralen Demokratieansätzen versehenen) Obrigkeitsstaates beeinflusst war, berücksichtigte es

– aktiv die (thematische und adressatenbezogene) Universalisierung von Öffentlichkeit,

– die gewachsene Rolle öffentlicher Meinung im (wenn auch noch autoritär geprägten) Politikbetrieb,

– dabei insbesondere die steigende Legitimationsnotwendigkeit machtpolitischer Strategien und militärischer bzw. Rüstungsprojekte, und

– die Verschränkung „hochpolitischer“ Themen und Debatten – wie eben der Flottenaufrüstung – mit der Lebenswelt, der Alltagskommunikation breitester Bevölkerungskreise.

Dies kommt auf instrumenteller Ebene beispielsweise einerseits in höherer Organisiertheit, Transparenz und Professionalität der Pressearbeit oder in einem größeren Stellenwert ihrer Resonanzbeobachtung zum Ausdruck. Andererseits finden Elemente der Kampagne Eingang in die Alltagskultur der Menschen (z.B. Matrosenlook1) und generieren eine Langzeitwirkung, die sich sogar vom ursprünglichen Kampagnenzweck verselbstständigt.

Aus vielen dieser Merkmale erwächst der Wert der kaiserlichen Flottenkampagne für eine Geschichte der Öffentlichkeitsarbeit, die sich heute demokratischen Kommunikationsstandards verpflichtet sieht.

PR-ethische und demokratische Defizite

Gemessen an heutigen Vorstellungen von ethischem PR-Handeln verdienen mehrere Aspekte der Kampagne Kritik. So lassen sich einige Ansätze einer Zwangsstrategie finden, wurden doch mithilfe der Unterstützung des Kaisers unerwünschte Publikationen verhindert. Auch die massive strategische Beeinflussung von Kindern und damit einhergehend eine Infiltrierung des Schulsystems, das Fehlen einer symmetrischen Kommunikation und die Ausnutzung der ‚Naivität‘ der seinerzeit häufig noch medienunerfahrenen Bürger müssen aus heutiger Sicht beanstandet werden.

Besonders kritikwürdig mutet jedoch das instrumentelle Wahrheitsverständnis an: Es wurden auch Fehlinformationen zur Unterstützung eigener Argumente verbreitet, Fakten vorenthalten oder geschönt und teils intransparent gehandelt: Das Reichsmarineamt verschwieg die Beteiligung an diversen Publikationen. Da nach heutigem Verständnis Werte wie „Objektivität, Sachkenntnis, Offenheit, Konsistenz und zunehmend auch Transparenz“ (Bentele 1998, S. 145) das Fundament politischer Öffentlichkeitsarbeit bilden sollen, sind eine derartige Verschleierung und absichtliche Fehlinformierung der Öffentlichkeit inakzeptabel.2

Ein solches instrumentelles Verständnis basierte auf der Vorstellung, zu einer wissenden Elite zu gehören, und darauf, dass aus Sachkenntnis direkt unfehlbare Politik erwachse. Einerseits zeigt das Wirken der Akteure, wie sie eine gewachsene Rolle von Parlament und Presse berücksichtigen und ausnutzen, dabei auch wichtige Mechanismen und Tendenzen im Verhältnis von Politik und Medien erkennen. Andererseits bleiben sie einer Geringschätzung des Politischen verhaftet und lehnen die Konsequenzen der Entwicklung hin zu Demokratie und Publizität ab. Dieser Widerspruch wird auch in den „Lebenserinnerungen“ des Alfred von Tirpitz sichtbar, wenn er nach dem Sturz des Kaiserreiches schrieb:

Im preußisch-deutschen Regierungssystem meiner Zeit erschöpften sich die Minister allgemein lieber in stiller, meist ungelohnter Ressortarbeit, als dass sie an der Oberfläche der Öffentlichkeit paradierten. Die ohne Sinn für organisches Wachstum und ohne Achtung für die Vernunft der Geschichte dem deutschen Volk jetzt von internationalen Theoretikern übergestülpte Zwangsjacke des Parlamentarismus wird die alte Zeit bald als die gute preisen lehren. Die neuen Herrschaften werden sich wundern, wie sachlich sie früher regiert worden sind und wieviel treue Arbeit an Stelle von eitlem Geschwätz geleistet worden sind.

(Tirpitz 1920, S. 84; Rechtschreibung modernisiert)

 

Autor(en): T.L.R.-M.U.C.K.

Anmerkungen

1 Ob dieser Modetrend von den Kampagnemachern allerdings bewusst in Gang gesetzt wurde, scheint strittig zu sein. Darauf verweist Bollenbach 2009, S. 2, in Fußnote Nr. 3.

2 Vgl. Deist 1976, Baumgart 1986 und Bollenbach 2009.