Zeitgeschichtlicher Hintergrund I
Hochindustrialisierung und „Weltpolitik“
Die Idee und die Umsetzung der kaiserlichen Flottenkampagne fallen in eine Zeit, die von Expansionsträumen und Weltmachtstreben gekennzeichnet ist. ‚Seemacht ist Weltmacht‘ lautete das Credo der nationalen Machtpolitiker in ganz Europa.1 Vor dem Hintergrund des Hochimperialismus und dem damit verbundenen Wunsch, Kolonien für sich zu beanspruchen, wollte sich nun auch das bislang eher zurückhaltende Deutsche Reich endlich einen so genannten Platz an der Sonne sichern und am „Konzert der Weltmächte“ (Wolbring 2000, S. 262) teilhaben. Außenpolitisch war also die Lage durch vielerlei wirtschaftliche sowie politische Einflussnahmen – oder jedenfalls entsprechende Ankündigungen und Versuche – gekennzeichnet. Dadurch nahmen die realen und kommunikativen Spannungen zwischen den europäischen Mächten zu.
Die zunehmenden außen- bzw. weltpolitischen Ambitionen des Deutschen Reiches beruhten auf einer rasanten Entwicklung innerhalb des Landes. Ökonomischer Aufschwung und zunehmend großindustrielle Produktion vor allem ab 1895 machten aus Deutschland einen wirtschaftlichen Riesen. Dabei wandelte sich das Reich vom Agrar- zum Industriestaat: 1907 überstieg die Anzahl der Erwerbstätigen in der Industrie den Anteil der Beschäftigten in der Landwirtschaft deutlich. Des Weiteren vollzogen sich in entscheidenden Wirtschaftszweigen – etwa im Bergbau oder Bankwesen – strukturelle Veränderungen, insbesondere eine Monopolbildung.
Die stark expandierenden Märkte und die Schaffung zahlreicher Arbeitsplätze ließen ein Bevölkerungswachstum unter sich stetig verbessernden Lebensbedingungen zu. In diesem Zuge sank auch die Analphabetenquote der Gesellschaft, wodurch sich ein steigendes Interesse an kulturell-medialer Teilhabe entwickeln konnte.2
„Weltpolitik“ stellte Bruch zur Bismarck-Zeit dar: ein Rückblick
Dem wilhelminischen Zeitalter – in dem die Flottenkampagne stattfand – ging die so genannte Bismarck-Ära voraus. Zum Reichskanzler Otto von Bismarck, der zentraler Protagonist der Reichsgründung von 1871 im französischen Versailles war3, hält das PR-Museum eigene Inhalte bereit. Dennoch empfiehlt sich hier ein Rückblick, um die Veränderungen in der Politik von Bismarck zu Wilhelm II. deutlich zu machen. Die Schaffung des Deutschen Reiches unter Bismarck und die Überwindung der vorherigen Kleinstaaterei hatten die Landkarte Europas verändert. In den übrigen Ländern des Kontinents rief die damit einhergehende politische, wirtschaftliche und militärische Stärkung Deutschlands auch viel Misstrauen hervor.4
Bismarck war sich darüber bewusst, dass das Reich aufgrund seiner Mittellage in Europa leicht zwischen die Fronten geraten konnte. Deshalb betrieb er eine ‚Politik der Saturiertheit‘ und postulierte demzufolge, dass das Deutsche Reich keine weiteren territorialen Ansprüche erhebe.5 Zudem bemühte er sich, Beziehungen zu den wichtigsten Großmächten – wie England, Russland und Österreich-Ungarn – zu pflegen. Frankreich hingegen sah Bismarck als möglichen Unruhestifter in Europa, da viele Franzosen nach der Niederlage im Deutsch-Französischen Krieg Rachegefühle gegenüber Deutschland hegten. Um eine erneute Auseinandersetzung mit Frankreich zu vermeiden, betrieb Bismarck eine ausgeklügelte Bündnispolitik. Mit der versuchte er, Frankreich von den anderen Großmächten zu isolieren.6 Die zahlreichen Bündnisse veranschaulichen, dass sich die Interessen Bismarcks nach der Reichsgründung überwiegend auf die Stabilisierung des Deutschen Reiches innerhalb des europäischen Bündnissystems konzentrierten.7
Anmerkungen
1 Als außenpolitische Maxime galt: „Weltpolitik als Aufgabe, Weltmacht als Ziel, Flotte als Instrument“ (Wilhelm II., zit. nach Kunczik 1997, S. 109).
2 Vgl. Plumpe 2011 und Pürer/Rühl 2007. Auch Gutsche 1991, S. 78f.
3 Frankreich war von Preußen-Deutschland besiegt worden. In Versailles wurde der preußische König Wilhelm I. am 18. Januar 1871 zum deutschen Kaiser ernannt.
4 Vgl. Nipperdey 1992, S. 80, und Rödel, 2003, S. 129.
5 Vgl. Nipperdey 1992, S. 427f.
6 Vgl. Geppert 2012, S. 9. Die Franzosen hatten Elsass-Lothringen verloren und an Deutschland fünf Milliarden Francs zu zahlen.
Bismarck initiierte 1873 das Dreikaiserabkommen mit Österreich-Ungarn und Russland. In dem Abkommen sprachen sich die Kaiser der drei Länder dafür aus, den Frieden in Europa zu festigen. Sie legten fest, dass sich die Partner im Falle eines Angriffs durch andere Mächte zunächst untereinander verständigen, um sich so auf eine gemeinsam zu verfolgende Linie zu einigen. Auf diese Weise gelang es Bismarck, Frankreich Verbündete zu entziehen und es weiter zu schwächen (vgl. Seraphim 1966, S. 148). Um die Beziehungen zu Österreich-Ungarn weiter zu stärken, diente der Zweibund, der 1879 geschlossen wurde. Das Bündnis besagte, dass beide Länder sich bei einem Eingriff Russlands gegenseitig unterstützen, bei Angriffen anderer Länder aber neutral bleiben müssten. 1882 wurde aus dem Zweibund zwischen Deutschland und Österreich-Ungarn ein Dreibund mit Italien. Sollte Frankreich Italien angreifen, würden Deutschland und Österreich-Ungarn dem Land zur Hilfe kommen. 1881 folgte das Dreikaiserbündnis zwischen Deutschland, Österreich-Ungarn und Russland. Darin versicherten die Staaten, dass sie bei dem Angriff einer vierten Macht den anderen Staaten beistehen würden. Mit diesem Bündnis war zumindest auf dem Papier eine russische Unterstützung für Frankreich im Falle eines deutsch-französischen Konflikts untersagt (vgl. Nipperdey 1992, S. 438-443).