Zeitgeschichtlicher Hintergrund II

Herrschaft von Wilhelm II. bedeutete Politik- und Stilwechsel

Abb.: Wilhelm II. im Jahr 1902. Fotograf: T. H. Voigt aus Frankfurt. Quelle: Photograph HU 68367 from the collections of the Imperial War Museums. Wikimedia Commons, Public Domain.

Nach der Reichsgründung 1871 und dem Sieg über Frankreich hatte Bismarck als Reichskanzler im Deutschen Reich die Außenpolitik verantwortet. Dies änderte sich, als Wilhelm II. 1888 den Thron bestieg. Denn dieser wollte, im Unterschied zu seinen Vorgängern, selbst entscheiden und gestand dem Reichskanzler weniger Macht zu. So kam es immer häufiger zu Konflikten. Vor allem mit der bisher defensiven Außenpolitik von Bismarck, der alles darangesetzt hatte, mit Hilfe eines Bündnissystems den Frieden in Europa zu wahren, war der Kaiser nicht einverstanden.1

Viele Autoren gehen davon aus, dass die gegensätzlichen Vorstellungen in den unterschiedlichen Persönlichkeiten des Kaisers und Reichkanzlers begründet lagen. Als Beispiel:

Dank seines Genies schuf Otto von Bismarck eine diplomatische Struktur, die zwischen 1871 und 1890 den Frieden in Europa wahrte. Die Idiotie Wilhelm II hingegen […] brachte Bismarcks Architektur zum Einsturz

(Byam/Pollack 2001, S. 121; übersetzt von L.M./M.O.).

Laut Bismarck sei Wilhelm ein „Brausekopf, könne nicht schweigen, sei Schmeichlern zugänglich und könne Deutschland in einen Krieg stürzen, ohne es zu ahnen und zu wollen“ (Röhl 1993, S. 739). Umgekehrt hielt Wilhelm II. Bismarck für aus der Zeit gefallen:

Meine Tragik im Falle Bismarck liegt darin, dass ich der Nachfolger meines Großvaters wurde, also gewissermaßen eine Generation übersprang. Das ist schwer, man hat immer mit alten verdienten Männern zu tun, die mehr in der Vergangenheit, als in der Gegenwart leben und in die Zukunft nicht hineinwachsen können. Wenn der Enkel auf den Großvater folgt und einen von ihm verehrten alten Staatsmann von der Größe Bismarcks vorfindet, so ist das nicht ein Glück wie es scheinen könnte und wie ich gedacht hätte

(Wilhelm II., zit. nach Krockow 1999, S. 116).

Von eher defensiver zu offensiver Politik, von der Stabilität zur Expansion

War Bismarck also eher der umsichtig agierende und Bewährtes bewahren wollende Diplomat2, so trat Wilhelm II. forsch auf und wollte auch unter Inkaufnahme von Risiken Veränderung anstoßen. Das kommt wohl besonders gut im folgenden Zitat von Philipp Eulenburg in einem Brief an Bülow (ab 1900 Reichskanzler) zum Ausdruck, in dem er den Kaiser als …

(…) unverändert in seiner explosiven Art“ beschrieb und anmerkte, dass „seine Individualität (…) stärker [ist] als die Wirkung von Erfahrungen

(Eulenburg, zit. nach Röhl 2007, S. 19).

Die unüberwindbaren Differenzen führten dazu, dass Bismarck 1890 mehr oder weniger erzwungen abdankte. Als Nachfolger setzte der Kaiser General Leo von Caprivi ein, der im Vergleich zu Bismarck politisch relativ unerfahren und deshalb noch „formbar“ war (Röhl 1993, S. 616).

Mit der Entlassung Bismarcks begann ein „Neuer Kurs“ in der Außenpolitik. Die Sicherheits- und Stabilitätspolitik endete und an ihre Stelle trat eine aggressive Außenpolitik, die vom Expansionsstreben geleitet wurde.

Autor(en): L.M.M.O.T.L.

Anmerkungen

1 Vgl. Born 2000, S. 112.

2 Mehrere Autoren attestieren Bismarck, das Spiel der Diplomatie bis ins letzte Detail beherrscht zu haben (z.B. Hellmann/Wagner/Baumann 2014, S. 127).