Staatspresse: allgemein und die Norddeutsche Allgemeine Zeitung

Offizielle Staatspresse

Abb.: Seite 1 der ersten Ausgabe der „Allgemeinen Preußischen Staats-Zeitung“ von 1819. Quelle: Wikimedia Commons, gemeinfrei.

Als Hauptweg zur aktiven Verbreitung von Informationen und Auffassungen der Regierungen nach 1848 diente noch nicht die auch zunehmend ausgeübte positive Pressearbeit im heutigen Sinne (als Teil moderner Öffentlichkeitsarbeit), sondern weiterhin ein offener oder verdeckter Regierungs-„Journalismus“ über offizielle oder offiziöse Blätter.

Offizielle Staatsanzeiger (und auch andere Amtsblätter) kamen traditionell eher sachlich-nüchtern daher. Inwieweit sie mit Zunahme der Rolle öffentlicher Meinung im Sinne der Regierung „politisiert“ werden sollten, war umstritten. Dagegen sprach, dass der Inhalt einer amtlichen Zeitung direkt der Regierung zugerechnet wurde: „jede Form der Polemik, der räsonierenden Aufladung hätte ihre obrigkeitliche, exklusive Position in den Augen der Verantwortlichen desavouiert“. Der Preis dafür waren Langweiligkeit und das „Odium der Manipulation“. Mindestens bei bürgerlich-liberalen, kritischen Publika war das amtliche Blatt nicht sonderlich beliebt oder wirksam. (Piereth 1994, S. 38)

Offiziöse Regierungsblätter

Potenziell erfolgreicher erschienen den damals Herrschenden offiziöse Blätter, die „diskret, aber zugleich möglichst direkt“ im Sinne der Regierung wirkten: Gegenüber der Öffentlichkeit sollten sie als nicht amtlich, sondern unabhängig erscheinen, „zugleich aber, nach einem berühmten Wort Bismarcks, der Regierung stets ‚ein Quantum weißes Papier zur Disposition’ stellen, um darauf amtliche Ansichten als die ihren zu vertreten“ (Piereth 1994, S. 39). Verleger bzw. Redaktion profitierten von dieser exklusiven Informationsbeziehung oder von finanziellen Zuwendungen. In der Regel wurde dies heimlich per Vertrag festgelegt. Allerdings konnte auch diese Konstellation vom Publikum erkannt oder zumindest vermutet werden und ggf. kontraproduktiv wirken.

„Häufig wechselten die offiziösen Blätter der preußischen Regierung: Auf die Deutsche Reform folgten die Zeit, die Allgemeine Preußische (Stern-) Zeitung und schließlich unter Bismarck – mit etwas anderem Charakter – die Norddeutsche Allgemeine Zeitung.“ (Piereth 1994, S. 39) Letztere war 1861 aus einem 1855 gegründeten Wochenblatt hervorgegangen.1

Freiwilligkeit der Indienststellung

Unter Bismarck war die Norddeutsche Allgemeine Zeitung offiziöses Regierungsblatt, allerdings mit etwas anderem Charakter als frühere Staatszeitungen. Dieser „andere Charakter“ bestand darin, dass die Norddeutsche Allgemeine Zeitung „freiwillig gouvernemental“ war: „nicht mehr im klassischen Sinn per Vertrag offiziös, sondern über die Einflussnahme Bismarcks auf ihren Redakteur, August Heinrich Braß“ (Piereth 1994, S. 39). Dass sich journalistische Organe mehr oder weniger freiwillig dem Einfluss der Regierung öffneten, war insbesondere nach 1866 nicht selten. Vor der Reichseinigung, ähnlich wie in der Zeit der Befreiungskriege, konnten die Regierenden auf einen vergleichsweise hohen Rückhalt bei den Regierten bauen.2

Auch war es nicht unüblich, dass Publizisten die Seiten wechselten, was durch den sich in jenen Jahrzehnten relativ schnell vollziehenden weltanschaulich-politischen Differenzierungsprozess, die Abfolge fundamentaler außen- und innenpolitischer Ereignisse und verändernde Kräfteverhältnisse begünstigt wurde. Oder die Literaten und Journalisten gingen im Sinne des „kleineren Übels“ (zeitweise) Kompromisse ein bzw. wollten „die andere Seite“ für eigene Absichten instrumentalisieren. Brass (die Schreibweise schwankt) war „ein Republikaner und Revolutionär von 1848, der nach Genf geflohen war und dort mit preußischer Subvention die ‚Genfer Grenzpost‘ herausgegeben hatte.“ (Bialowons/Raue 1979, S. 16)

Bismarck und Brass konnten also gegenseitig Zugänglichkeit voraussetzen. Und Bismarck zeigte sich bei der Wahl seiner Mittel und Zuarbeiter als unideologischer Pragmatiker. Insofern erwies er sich als Politiker und Kommunikationsstratege professionellen und nicht auf Gesinnung beharrenden Zuschnitts.

Bismarcks professionelle Medienstrategie für die Norddeutsche

Abb.: August Bebel (1898). Quelle: ursprünglich Allgemeiner Deutscher Nachrichtendienst – Zentralbild (Bild 183), jetzt: Bundesarchiv, Bild 183-14077-0005 / CC-BY-SA 3.0 / Wikimedia Commons, Attribution-Share Alike 3.0 Germany license https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/legalcode

August Bebel, als führender Sozialdemokrat quasi Bismarcks innenpolitischer Gegenspieler, schrieb in seinen Lebenserinnerungen (Aus meinem Leben, Berlin 1961, S. 72):

In der Tat hat denn auch Bismarck alle Register gezogen, um Herr der Situation zu werden; seine Werkzeuge nahm er, wo er sie fand. Er hätte sich mit dem Teufel und seiner Großmutter verbunden, fand er einen Vorteil dabei. So zog er August Brass, den Chefredakteur der damals großdeutschen ‚Norddeutschen Allgemeinen Zeitung‘ in seine Dienste, obgleich dieser früher roter Demokrat gewesen war (…) Er hatte auch nichts dagegen einzuwenden, dass Brass Liebknecht von London und Robert Schweichel von Lausanne als Redakteure an die ‚Norddeutsche Allgemeine Zeitung‘ berief. Weiter gelang es Bismarck, neben Brass im Jahre 1864 Lothar Bucher, den alten Demokraten und Steuerverweigerer, zu gewinnen, dessen großes historisches Wissen und gewandte Feder er sich dienstbar machte. Bucher war es auch, der im Auftrage Bismarcks 1865 den Versuch machte, Karl Marx als Mitarbeiter für den preußischen Staatsanzeiger zu werben, wobei er die Freiheit haben sollte, ganz nach Belieben zu schreiben, propagiere er selbst den Kommunismus.

(Bebel, zit. nach Bialowons/Raue 1979, S. 16f.)

Bismarck beabsichtigte damit offensichtlich auch, prominente und fähige Publizisten als Aushängeschild für Preußen und seine Politik zu nutzen, kommunikativ Modernität auszustrahlen sowie intellektuell-geistig Überlegenheit zu demonstrieren. Dies ging, konsequent zu Ende gedacht, nicht ohne Rückgriff auf Persönlichkeiten von „der anderen Seite“. Die Deutsche Allgemeine Zeitung, wie die Norddeutsche nach dem Ersten Weltkrieg hieß, schrieb rückblickend:

Wollte man damals fachlich geschulte Journalisten überhaupt aufzeigen, so musste man sie aus den demokratischen Reihen holen. Dieses Mittel hat Bismarck konsequent und mit Erfolg in mehreren Fällen angewendet.

(Zit. nach Bialowons/Raue 1979, S. 18)

Seit 1865 stand Bismarck auch die offiziöse Nachrichtenagentur „Wolff’s Telegraphen Bureau“ zur Verfügung.3 Die Norddeutsche Allgemeine Zeitung blieb bis 1918 das offiziöse Blatt der Reichsregierung.4

Autor(en): A.-M.G.T.L.

Anmerkungen

1 Vgl. Bialowons/Raue 1979, S. 16.
2 Vgl. Piereth 1994, S. 42.
3 Vgl. Kunczik 1997, S. 90.
4 Vgl. Bialowons/Raue 1979, S. 18.